Xavi Simons hat während des Spiels sogar ein Erinnerungsfoto geschossen, auf dem Feld, mit bloßen Händen, von seinem Sturmpartner Loïs Openda nach dessen Treffer zum zwischenzeitlichen 2:1. Kurz vor der Pause hatte RB Leipzig das Pokalspiel beim Drittligisten Rot-Weiss Essen gedreht, hatte einen 0:1-Rückstand in eine Pausenführung umgewandelt. Am Ende gewann Leipzig 4:1. Torschütze Openda posierte nach seinem Treffer grinsend, hielt demonstrativ derart still, als solle er gar in Öl gemalt werden, und Simons knipste das imaginäre Foto mit einer imaginären Kamera. Die schönsten Erinnerungen sind sowieso bekanntlich jene, die man im Herzen behält.
Nun wird die kurzfristige Rückkehr von Xavi Simons zu RB Leipzig gewiss nicht nur eine emotionale Entscheidung gewesen sein, sondern auch eine monetäre. Dieses im Fußball nicht ganz unwichtige Zusammenspiel hatte vor zwei Wochen ergeben, dass der seit dem 1. Juli zunächst nicht mehr an RB Leipzig ausgeliehene, noch bis 2027 bei Paris Saint-Germain vertraglich gebundene Niederländer sich für eine Rückkehr nach Leipzig entschied, für ein weiteres, zweites Jahr auf Leihbasis.
Am Samstag nun hat Simons in diesem, seinem zweiten Jahr für Leipzig sein erstes Pflichtspiel absolviert – und das führte ihn witzigerweise in ein Essener Stadion, das bloß 35 Kilometer westlich von jener Dortmunder Arena entfernt liegt, in der er 38 Tage zuvor mit der niederländischen Nationalmannschaft vergeblich versucht hatte, das EM-Halbfinale gegen England zu gewinnen. Damals hatte Xavi Simons in der 7. Spielminute die 1:0-Führung für Oranje erzielt, aber die Engländer haben die Partie noch gedreht, weshalb die Niederlande an jenem 10. Juli nicht ins EM-Finale eingezogen waren und der 21 Jahre alte Xavi Simons fortan die Muße besaß, sich zu überlegen, für welchen Verein er in der kommenden Saison spielen will.
Nicht nur der FC Bayern hatte im Sommer Gefallen an dem offensiven Mittelfeldmann gezeigt und ihm Avancen gemacht, auch Borussia Dortmund, Manchester United, der FC Barcelona, der FC Liverpool und Bayer Leverkusen wurden medial als Interessenten gehandelt. Die Sportbild berichtete soeben, der Bayer-Trainer Xabi Alonso soll Xavi Simons in einem Videocall zu überreden versucht haben, nach Leverkusen zu kommen. Doch Xavi Simons will sich dem Vernehmen nach in einem zweiten Jahr in gewohntem Umfeld umso effektiver weiterentwickeln. Im kommenden Jahr wird sich dann zeigen, ob Paris St. Germain den offensiven Dribbler und brillanten Vorbereiter verkaufen mag oder nicht. Dann werden die Karten neu gemischt.
Nach dem Verkauf von Dani Olmo an den FC Barcelona ist ein vielseitiger Kreativspieler wie Simons umso wertvoller für Leipzig
Am Samstag in Essen hat Simons direkt wieder gezeigt, was ihn für Leipzig so wertvoll macht. Gegen zugegebenermaßen sehr defensive und phasenweise überforderte Essener Drittligafußballer hatte der Niederländer den Ball immer wieder a) gefordert, b) verwaltet, c) gedribbelt und d) aussichtsreich weitergespielt. Xavi Simons war in der vergangenen Bundesligasaison mit acht Treffern ja tatsächlich zwar nur einer von acht Spielern auf Platz 22 der Torschützenliste, aber er war mit 15 Assists der beste Vorlagengeber der Liga.
Am Samstag im Stadion an der Hafenstraße in Essen war er mehr oder weniger an allen vier Leipziger Toren beteiligt, weil er das erste durch Benjamin Sesko (12.) aus nächster Nähe mitangesehen, nach dem zweiten durch Openda (40.) das erwähnte Foto geknipst, das dritte durch den Zugang Antonio Nusa (84.) vorbereitet und das vierte zum 4:1-Endstand selbst erzielt hatte.
Solch einen vielseitigen Fußballer für ein zweites Jahr zu behalten, war den Leipzigern auch deshalb so enorm wichtig, weil sie ja ihren anderen Kreativspieler Dani Olmo an den FC Barcelona verkauft haben. Xavi Simons ist außerdem ein Angestellter, der die Wünsche aller Mächte im Klub respektiert – oder warum ist er am Samstag in Essen nach dem Spiel mit einer Dose Red Bull in der Hand aus der Kabine gekommen? Weil er’s mag?

„Leider ist das Pferd heute nur so hoch gesprungen wie es musste“, sagte nach dem Pokalspiel der Leipziger Trainer Marco Rose über die Mannschaft. Im Unterton durchaus wohlwollend äußerte sich der Coach aber über Xavi Simons, der viel versucht hat, und über jenen jungen Mann, der den fortgegangenen Dani Olmo ersetzen soll: Antonio Nusa, 19 Jahre jung, Norweger mit nigerianischen Wurzeln, für 22 Millionen Euro gekommen vom FC Brügge. Sein Schuss ins Glück zum 3:1 war Nusas erste Ballberührung für RB Leipzig in einem Pflichtspiel, was erstens ein gutes Omen sein sollte und zweitens eines imaginären Fotos ebenfalls würdig gewesen wäre. Allerdings erhielt Xavi Simons dazu keine Gelegenheit, weil sich sofort die ganze Mannschaft jubelnd auf den Torschützen stürzte.
„Er muss natürlich die Riesenlücke von Dani Olmo füllen – aber wir machen ihm da keinen Druck“, sagte über Nusa der Außenverteidiger David Raum, der am Samstag einer von acht Leipziger Spielern war, die bei der EM im Einsatz waren: Simons für die Niederlande bis zum Halbfinale, Raum und Benjamin Henrichs für Deutschland bis zum Viertelfinale, Openda für Belgien, Nicolas Seiwald für Österreich und Sesko für Slowenien alle bis zum Achtelfinale sowie Peter Gulacsi und Willi Orban für Ungarn in der Vorrunde.
Nach dem Pokalsieg in Essen bekommen es die Leipziger im ersten Bundesligaspiel am kommenden Samstag bereits wieder mit einer Abordnung aus dem Ruhrgebiet zu tun. Dann empfangen sie den VfL Bochum.