X-Games in München:Show der Schmerzensleute

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Javier Villegas (links) und Mat Rebeaud beim Motocross-Wettbewerb der X-Games. (Foto: Bongarts/Getty Images)

Wo die Freiheit keine Grenzen kennt, gerät leicht auch das Risiko aus dem Blick: Die Münchner Premiere der X-Games zeigt Segen und Fluch des Freestyle-Sports. Hinter den Kulissen ist viel Nachdenklichkeit zu entdecken. Sogar die Mutigsten kennen so etwas wie Angst.

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Es gibt keinen Tag ohne Sturz im Leben eines Skateboarders, auch Chris Cole hat sich deshalb ein paar Mal auf den Boden seiner schwarzen Jeans gesetzt im Street-League-Finale der Skateboarder bei den Münchner X-Games. Das kleine Rollenbrett ist so unendlich schwer zu beherrschen, dass es selbst den Besten immer wieder entwischt. Aber auch wenn das Brett gehorcht: Es geht so eine brüchige Eleganz von der Skateboard-Elite aus, die in jedem Augenblick erahnen lässt, welche hohe Bewegungskunst ihren Tricks zugrunde liegt.

"München! Absolute Street-League-Madness!" schreit der Stadionsprecher durch die vollbesetzte Eishalle des Olympiaparks, als wollte er das Klischee vom grellen Funsport herbeibrüllen. Aber die Profis bleiben gelassen, springen, schreddern, stürzen, stehen wieder auf, bis der Amerikaner Chris Cole, 31, aus Statesville den Wettkampf mit dem letzten Versuch auf seine Seite zwingt. Cole springt die Stufen hinunter, löst sich vom Brett, das sich wie von Geisterhand geführt so um die eigene Achse dreht, dass Cole mit beiden Füßen auf ihm zu stehen kommt und darauf das Geländer hinunterrollen kann. 360 Kickflip 50-50 Grind. Gestanden. Die Menge jubelt, als wäre beim Fußball ein Tor gefallen. 9,0 Punkte. Gold.

Die X-Games-Premiere in München ist ein Fest gewesen, bei dem die Show so gegenwärtig war wie das Risiko des Scheiterns. Sie schwebte irgendwo zwischen Sport und Kunst, Oberfläche und Tiefe. Sie war faszinierend und abschreckend zugleich. Sie zeigte sinnfreies Akrobaten-Theater, dann wieder Zaubereien von innerer Kraft. Und daneben, an einzelnen Ständen des dröhnenden Sponsoren-Parcours, auch die ganz andere Seite des Freestyle-Wesens, die kleine, ruppige Schönheit der Untergrund-Sportart Skateboarden, die vor allem die beseelten Kommerzkritiker des Milieus tragen. Die Spiele wirkten auf den ersten Blick tatsächlich wie die rücksichtslose Spektakel-Phantasie ihrer Erfinder vom US-Privatkanal ESPN - und dann waren sie doch nur eine ganz normale Sportveranstaltung, der das Regenwetter Ausfälle und Verschiebungen aufzwang.

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Die X-Games sind ein Produkt des freien US-Unterhaltungsmarktes, und so kann man dabei auch viel erfahren über Segen und Fluch des amerikanischen Verständnisses von Freiheit. Die Kultur des Freestyle haben die Amerikaner so bedingungslos vorangetrieben wie keiner sonst und damit der Sportwelt eine neue kreative Dimension verliehen. Traditionen sind nicht wichtig. Es geht um Fortschritt, Zukunft, Abenteuer. "Innovation ist ein großer Teil des Freestyle", sagt der US-Motocrosser Nate Adams, in München Bronze-Gewinner im Speed- and Style-Contest. "Was Neues finden, etwas, das noch niemand gesehen hat. Gefährlicher, technischer. Dadurch bleibt es nie gleich, irgendjemand macht immer was Neues, um Fernsehzeit zu bekommen und einen Sponsor."

Ständig neue Bewegungsbilder sind aus diesem Wettbewerb der Ideen gewachsen, was einerseits toll ist, aber andererseits natürlich keineswegs so spaßig, wie es mancher Vermarkter aussehen lassen will. Wo die Freiheit keine Grenzen kennt, gerät leicht das Risiko aus dem Blick. Freestyle-Neuheiten zu erfinden, ist harte Arbeit, der Fehlversuch ist dabei das natürliche Berufsrisiko, und der Fehlversuch hat meistens damit zu tun, aus großer Höhe hart auf dem Boden aufzuschlagen (viele Motocrosser trainieren immerhin an Schaumstoffgruben). Freestyler sind Schmerzensleute. Sie gehen damit unterschiedlich um.

Der Freestyle-Mountainbiker Sam Pilgrim aus Großbritannien sagt, er mache sich keine Gedanken über den Druck, immer originell sein zu müssen. "Das als ein Risiko zu denken, ist sinnlos. Du kannst doch auch auf die Straße gehen und vom Auto überfahren werden, oder?" Skateboarder Chris Cole sagt, dass er im Adrenalin-Rausch die Härten der Jagd nach Neuem gar nicht so spüre, außerdem: "Mein Wille, das umzusetzen, nach was ich mich einmal gesehnt habe, ist viel größer als der Schmerz, den ich dabei einstecken werde." Und der Motocrosser Edgar Torronteras aus Spanien, in München Gewinner des Kunstsprung-Wettkampfes Best Whip, sagt auf die Frage nach dem Schmerz: "Wenn ich Schmerzen habe, nehme ich Pillen. So ist das."

Edgar Torronteras lächelt verschämt dabei wie ein Junge, der durchaus weiß, dass es irgendwie doof ist, aus dem Süßigkeitenschrank der Mutter Bonbons zu nehmen. Er hat ein finsteres Dreitagebart-Gesicht, einen Nasenring, Tattoos, aber eine unverstellte Freundlichkeit und keine Illusionen. Er kann seinen Sport nicht mehr aufgeben, er ist zu tief drin in seiner Seele. Aber er weiß immerhin, dass er ins Unvernünftige hinüberspielt. Er lüftet seinen Kragen und zeigt die kantige Stahlplatte, die sein Schlüsselbein ersetzt, er schiebt das Hosenbein hoch, zeigt die Narbe am Fußgelenk und ruckelt an seinem Knie, das kaputte Kreuzbänder aufweist.

Das ist der Preis, und ihm ist klar, dass das Publikum davon nichts wissen. "Nur zehn Prozent der Leute verstehen den Sport", sagt er in seinem etwas wackligen Englisch, "für die anderen ist das wie im Zirkus. Wenn ein Fahrer stürzt und kaputt geht, sagen sie: Ooh. Und dann geht's weiter." Innovation? Sich selbst neu erfinden? Torronteras weiß nicht recht. Erst im Februar ist sein japanischer Kollege Eigo Sato im Training zu Tode gestürzt. "Ich warte ab. Ich fahre mit den Tricks, die ich kann", sagt Torronteras. "Ich bin gerne am Leben."

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Gleich hinter den Kulissen der Show beginnt die Nachdenklichkeit der Sportler, und es ist gut zu wissen, dass es sie gibt neben dem Getöse. Im Zirkus vergisst man so leicht, dass auch der Clown manchmal traurig ist. Und bei den X-Games muss man verstehen, dass auch die Mutigsten so etwas wie Angst kennen. Und dass vor aller Leichtigkeit der Schmerz steht.

© SZ vom 01.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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