Verlieren gehört zum Geschäft im Tennis, aber das heißt nicht, dass eine ambitionierte Spielerin solche Gesetzmäßigkeit einfach hinnehmen müsste. Mirra Andrejewa neigte dazu, bei Niederlagen schnell unleidlich zu werden. Es kam vor, dass sie tagelang mit keinem sprach. Dass sie im Bett blieb. Dass sie ihre Zeit mit Nichtstun verbrachte, bis sie sich wieder gefangen hatte und bereit war, ein Match, das nicht in ihrem Sinne gelaufen war, zu analysieren. Von ihrem Hang zur situationsbedingten Stinklaune hatte sie, durchaus amüsiert, vor zehn Monaten selbst berichtet, als sie bei den French Open in Paris unterlag – in einem Grand-Slam-Halbfinale, dem ersten ihrer Karriere, wohlgemerkt.
Allzu viele mürrische Tage aus Anlass einer Niederlage hat sie seitdem nicht mehr verleben müssen. Erstens, weil sie älter geworden ist; und zweitens, weil Mirra Andrejewa aus Russland, 17 Jahre und elf Monate alt, die Sprossen der Weltrangliste, die Himmelleiter des Tennis, in einem Tempo erklimmt, das bei manchem Beobachter leichte Schwindelgefühle erzeugt.

Tennis:Ein deutsches Talent bietet ein Spektakel
Der 17 Jahre alte Diego Dedura-Palomero gewinnt in München sein erstes Match auf der ATP Tour – und beeindruckt dabei mit Schlägen, die an sein Vorbild Rafael Nadal erinnern. Der Berliner gilt weltweit als eines der größten Talente des Jahrgangs 2008.
Sie steht an Position sieben und hat vor wenigen Wochen nacheinander zwei WTA-Turniere der 1000er-Kategorie gewonnen, die Prestigeveranstaltungen in Dubai und Indian Wells. Zuletzt fegte sie fast alles vom Platz, was ihr vor den Schläger lief, in Kalifornien auch die beiden Besten, Aryna Sabalenka und Iga Swiatek. Die Nummer eins und zwei der Welt in einem Turnier zu schlagen, das ist in den 50 Jahren seit Einführung des WTA-Rankings nur einer Spielerin gelungen, die noch jünger war: Tracy Austin 1979. Aber ihrer ärgsten, ihrer schwierigsten Gegnerin hat Mirra Andrejewa erst am Mittwoch beim Grand Prix in Stuttgart gegenübergestanden: ihrer Schwester Erika.
Sie hatten Sibirien vor Jahren gemeinsam mit dem Ziel verlassen, ihr sportliches Talent professionell fördern zu lassen
Die ältere der beiden Andrejewas wird im Ranking zwar neunzig Plätze hinter der jüngeren geführt. Aber Familienduelle, ob früher bei den Williams und Pliskovas oder heute bei den Andrejewas, spielen sich auf sehr vielen Ebenen ab, sie haben keine monokausale Logik. Als die Schwestern aus Krasnojarsk im Oktober 2024 in Wuhan in China erstmals bei einem offiziellen Wettkampf aufeinandertrafen, war Erika nur über die Qualifikation und die Lucky-Loser-Regelung ins Turnier gerutscht, sie gewann trotzdem glatt in zwei Sätzen. Eine aufreibende Situation sei das für beide, sagte Mirra Andrejewa in Stuttgart. „Siebzig bis achtzig Prozent meiner Vorbereitung ist mental, aber wenn ich gegen meine Schwester spiele, kann ich mich nicht nur auf mich allein konzentrieren. Ich frage mich, was sie empfindet, oder wie es sein wird, wenn wir uns nach dem Match wiedertreffen.“
Abgesehen davon kennen die beiden ihre jeweilige Spielweise zwischen den weißen Linien so gut, dass es vermutlich ein ganzes Regal der kleinen Büchlein füllen würde, in denen Mirra Andrejewa nach jedem Match akribisch die Stärken und Schwächen ihrer Kontrahentinnen notiert.

In Stuttgart war der Sister-Act dann noch schneller beendet als in Wuhan, was allerdings an einer Knieverletzung Erika Andrejewas lag. Die 20-Jährige brach die Partie im zweiten Satz beim Stand von 2:6 und 0:1 aus ihrer Sicht ab und verließ schnellen Schritts mit einer Bandage am rechten Bein die Porsche-Arena. Nicht ohne vorher den Beweis geführt zu haben, dass sie den beidhändigen Rückhand-Passierschlag, der Mirras Markenzeichen ist und den Ball pfeilgerade die Linie entlang schießen lässt, ebenso unerreichbar wie die kleine Schwester meistert. „Neun von zehn Spielen“, sagte Mirra Andrejewa, die nun das Achtelfinale erreicht hat, „verliere ich gegen sie.“
Sie hatte sich während des Spiels etwas gesorgt um ihre Schwester. Ohnehin sei kaum in Worte zu fassen, was sie dem familiären Vorbild verdankt. Denn die Ältere sei jeden Schritt der Karriere, jede Sprosse auf der Leiter vorneweg gegangen: „Es war viel einfacher für mich, weil sie vor mir da war, weil sie mir den Weg gewiesen hat. Ich würde nicht so spielen und ich wäre heute nicht hier in Stuttgart, wenn sie nicht gewesen wäre.“
Die Schwestern hatten Sibirien vor Jahren gemeinsam mit dem Ziel verlassen, ihr sportliches Talent professionell fördern zu lassen. Die Familie siedelte sich erst in Sotschi an, dann noch weiter im Westen, in Cannes, in der französischen Tennisakademie von Jean-Rene Lisnard und Jean-Christophe Faurel. Mittlerweile hat sich Erika Coaches in Moskau gesucht, anders als die quirlige junge Schwester, die Conchita Martínez, Wimbledonsiegerin von 1994, an ihre Seite holte. Das sei nicht immer einfach, sagte Mirra Andrejewa, die Spanierin sei eine strenge Trainerin. Aber dass sie selbst eine kleine „Nervensäge“ sein kann, hat sie auch schon zugegeben.
Weil Conchita Martínez am Mittwoch 53 Jahre alt wurde, hat Mirra Andrejewa mitten auf dem Platz ein Geburtstagsständchen angestimmt mit dem Publikum als Chor. Und dann hat Martínez sie noch 25 Minuten zum Training gescheucht, auf dass sich die Anspannung nach dem Schwesternduell lockere. Es wird Wiederholungen dieser Begegnung geben, davon ist Mirra Andrejewa überzeugt: „Sie wird große, schwere Trophäen gewinnen.“ Das Familienduell jedenfalls ist jetzt ausgeglichen.