Als die weltbesten Tennisspielerinnen, Aryna Sabalenka, Coco Gauff und Co. am Karsamstag nach einem spielfreien Tag wieder die Bälle durch die Stuttgarter Arena jagen sollten, saß Jule Niemeier, 25, bereits im Flugzeug nach Madrid. Sie hatte einmal dazugehört zum Kreis der Elite, die schlägerschwingend ein großes Publikum zu Szenenapplaus bewegt: im seligen Sommer 2022, als sie im Viertelfinale von Wimbledon stand. Inzwischen muss sie bei hoch dotierten Turnieren wieder durch die Qual der Qualifikation, um ins Hauptfeld zu gelangen. In Spanien, bei der nächsten Großveranstaltung auf der Tennistour, teilt sie dieses Schicksal mit der deutschen Kollegin Ella Seidel, 20, die in Stuttgart ebenfalls im Achtelfinale verlor.
Und dennoch ist Jule Niemeier vom Porsche-Grand-Prix weitaus entspannter abgereist, als sie angekommen war. Was ihr Zuversicht gegeben hat nach einer „persönlich positiven Woche“, wie sie sagte, war etwa ein Satzball in Stuttgart gegen Jasmine Paolini, die Nummer sechs der Welt. Nur ein Satzball, kein Satzgewinn, könnten Nörgler einwenden. Aber das Besondere waren die Begleitumstände, unter denen sie ihn erstritt: Niemeier hatte schon 1:6, 0:2 zurückgelegen, als sie sich darauf besann, durchzuschwingen, die Bälle mit Wucht näher an die Linien zu treiben. Andere hätten resigniert, sie rappelte sich auf und verlor den Durchgang gegen die quirlige Italienerin zwar 5:7, aber nur knapp. „Ganz ordentlich“, wie sie fand.
Hinter ihr liegt ein Winter des Missvergnügens mit nur fünf gewonnenen Matches seit Saisonbeginn, dazu zehn Niederlagen auf vier Kontinenten. Als sie Anfang April im Nationenwettkampf, dem Billie Jean King Cup, zweimal verlor, hatte sich Niemeier, die von Michael Geserer trainiert wird, gerade von einer Krankheit erholt, litt aber noch an den Folgen von Rückenbeschwerden. Wer sah, wie sie zum Auftakt des Stuttgarter Grand Prix nach einem hart erkämpften Dreistundensieg gegen die Kollegin Laura Siegemund vor Erleichterung fast in Tränen ausbrach, erhielt eine Ahnung von den Qualen der Selbstzweifel, mit denen sie sich geplagt hatte.
Erfolg wie Misserfolg kommen oft in Wellen, und in beiden Fällen kann die Strömung die Spielerinnen in einen Strudel treiben. „Das ist im Tennis so: Es gibt immer mal gute und schlechte Phasen“, sagt Torben Beltz, der neue Bundestrainer des Deutschen Tennis-Bundes (DTB). So hat er es auch in seiner früheren Funktion als Coach der dreimaligen Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber erlebt. Es sei wichtig, sich nicht unterkriegen zu lassen, weiter nach Mitteln und Wegen zu suchen, „um die Welle zu brechen“.
Nur zwei deutsche Spielerinnen stehen unter den besten 100 der Welt: Eva Lys und Tatjana Maria
Ohne Zweifel besitzt Jule Niemeier alle spielerischen Fähigkeiten, die es braucht, um der Weltelite die Bälle um die Ohren zu schlagen, dass es nur so pfeift. Allerdings hat die Welle gerade fast das gesamte deutsche Frauentennis etwas vom Kurs getrieben. Nur zwei Spielerinnen sind unter den hundert Besten des WTA-Rankings zu finden: die 23-jährige Eva Lys, Achtelfinalistin der Australian Open, als Nummer 68 und Tatjana Maria als Nummer 81. Sie haben damit einen Platz im Hauptfeld großer Turniere sicher – für Niemeier (Nummer 121) und Seidel (124) gilt das nicht. Es sei deshalb das erste Ziel des DTB, den Spielerinnen zu helfen, über diese magische Grenze der Top 100 zu kommen, sagt Beltz. Vor dem Stuttgarter Turnier hat er einen Lehrgang organisiert, bei Turnieren will er künftig für einen Austausch mit Athletinnen und ihren Trainern bereitstehen.
Die Gesamtlage bewertet er durchaus optimistisch: „Wir haben viele junge Talente“, sagt er, „die haben alle Biss und Motivation.“ Ella Seidel etwa kam als Nachrückerin nach Stuttgart und erreichte erstmals das Achtelfinale eines Weltklasseturniers. Die Grand-Prix-Veranstalter hatten vier DTB-Spielerinnen per Wildcard eingeladen. Im Tennis ist es letztlich wie beim Surfen: Eine gute Welle muss man nutzen.