Süddeutsche Zeitung

Ski alpin:"Bis ich sieben Jahr alt war, wusste ich gar nicht, was Sommer ist"

Lesezeit: 3 min

Von Johannes Knuth, Sölden

Die letzten Gäste torkelten gerade in ihre Unterkünfte, die meisten angeheitert, manche doch recht sparsam bekleidet angesichts des plötzlichen Wintereinbruchs in Tirol, als Tessa Worley am vergangenen Sonntag aufstand und ihre Abreise vorbereitete. Elf Mal war sie in den Jahren zuvor in Sölden gestartet, beim ersten Ski-Weltcup des Winters, nie hatte sie hier den Riesenslalom gewonnen, ihre Leib- und Magendisziplin. Jetzt, nach ihrem zwölften Versuch, reiste sie erstmals umhüllt vom warmen Mantel des Erfolgs aus dem Ötztal ab und in die neue Saison hinein - da machte es auch nichts, dass ihre Nachtruhe sehr kurz gewesen war.

Das lag freilich weniger am feierwütigen Volk, das den kleinen Ferienort am ersten Wochenende des alpinen Winters traditionell heimsucht, sondern an Worleys Rennen am Tag zuvor. Schwerer Neuschnee hatte den Eishang am Söldener Gletscher in eine Buckelpiste verwandelt, aber Worley navigierte so sicher über die Furchen, als sei sie noch nie unter anderen Bedingungen gefahren. Während die meisten Konkurrentinnen hin und her rutschten, fuhr sie wie auf Schienen. Während die meisten ein wenig zögerten, holte Worley immer noch ein wenig mehr aus ihrer Fahrt heraus. Als sie in den Steilhang fuhr, hatte sie drei Zehntel Guthaben auf die Amerikanerin Mikaela Shiffrin, die zu diesem Zeitpunkt führte, als sie herauskam, waren es 1,2 Sekunden. Der Schlüssel in Sölden sei weniger die Technik, sagte Worley später, sondern "dass du die ganze Zeit angreifst. Es ist immer hart hier, aber dieses Jahr war es unglaublich". Am Ende gewann die Französin klar vor Federica Brignone, Shiffrin und Viktoria Rebensburg, der besten deutschen Vertreterin.

Es war ein Triumph über die anderen, aber ein wenig triumphierte Worley am Ende auch über sich selbst.

Tessa Worley ist 1,57 Meter groß und wiegt 58 Kilo, in Frankreich rufen sie sie "la puce", den Floh. Man kann mit diesen Maßen schnell mal übersehen werden, aber Worley wird nicht übersehen, zumindest in ihrem Sport. Sie zählt seit Jahren zu den besten Fahrerinnen im Riesenslalom, sie wurde zwei Mal Weltmeisterin (2013 und 2017), gewann 13 Weltcup-Rennen (alle im Riesenslalom), zwei Mal die Disziplinenwertung; vergangene Saison hinter Viktoria Rebensburg.

Zu sehr setzte Worley sich bei den Olympischen Winterspielen unter Druck

Sie drängt sich abseits der Piste nie in den Vordergrund, sie vermarktet sich nicht so offensiv wie Lindsey Vonn oder plaudert offen wie Sofia Goggia, aber sie hat auch eine kämpferische Seite, die man meistens auf der Piste erlebt. Als Worley vor fünf Jahren in Schladming zum ersten Mal den WM-Titel gewann, war die Piste ähnlich unbequem wie am Wochenende in Sölden, "sehr unruhig und eisig", sagte Viktoria Rebensburg damals, "noch schwieriger als angenommen", befand Maria Höfl-Riesch. Tessa Worley sagte: "Die Piste war einfach großartig."

Manchmal verstricken sich allerdings auch die Besten in Schwierigkeiten, zum Beispiel im vergangenen Winter. "Ich war da nie so richtig zufrieden mit meinen ersten Läufen", sagte Worley in Sölden, "ich habe mich zu sehr unter Druck gesetzt, weil ich unbedingt Rennen gewinnen wollte. Und dann war ich immer in der Position, dass ich in den zweiten Läufen großes Risiko eingehen musste, damit ich überhaupt aufs Podium komme. Das war sehr anstrengend." Und bedingt erfolgversprechend; bei den Winterspielen in Pyeongchang wurde Worley bloß Siebte. Und dann: "Habe ich überlegt, wie ich entspannter sein kann und einfach genießen kann, was ich tue", sagte sie.

Vielleicht half ihr, dass die Franzosen im Sommer ihren Trainerstab bei den Frauen munter durchwechselten, wobei Worley in Sölden beteuerte, dass es eher eine persönliche Sache sei: "Wenn du weißt, dass du gewinnen kannst, erzeugt das oft Verkrampfung. Aber heute habe ich mich von diesem Gefühl befreien können. Ich habe wirklich keinen Gedanken daran verschwendet, was passieren könnte, wenn es nicht laufen sollte."

Mittlerweile scheinen bei ihr Kopf und Körper mitzuspielen

Worleys Karriere ist lange Zeit ziemlich geradlinig verlaufen, ihre Eltern waren beide Skilehrer. Sie lebten im Winter in Frankreich, der Heimat der Mutter, und während des europäischen Sommers in Neuseeland, wo gerade ebenfalls Winter war und es nicht weit war bis Australien, der Heimat des Vaters. "Bis zu meinem siebten Lebensjahr wusste ich gar nicht, was Sommer ist", hat Worley einmal gesagt. Der erste große Rückschlag kam erst 2013, nach ihrem ersten WM-Titel, Kreuzbandriss, Meniskusschaden. Sie fing sich wieder, ist jetzt 29, im besten Skifahreralter wie Viktoria Rebensburg, und wirkt mental noch ein wenig gefestigter und angriffslustiger. "Ich habe über die Jahre viele Erfahrungen gemacht, ich bin jetzt wirklich bereit für diesen Kampf, mental und physisch." Was durchaus auch nötig ist bei der Konkurrenzdichte im Riesenslalom. "Es gibt gerade zehn, 15 Mädels, die sehr, sehr stark sind", sagte Mikaela Shiffrin in Sölden.

Der nächste Riesenslalom findet übrigens an der US-Ostküste in Killington statt, Ende November. Die Bedingungen dort in den vergangenen Jahren waren oft unruhig, nebelig und viel schwerer als gedacht.

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Quelle:
SZ vom 30.10.2018
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