Süddeutsche Zeitung

WM und Politik:Der Polizist stört das Spiel

  • Während des Endspiels der WM entern vier Mitglieder der russischen Performance-Künstlergruppe Pussy Riot das Spielfeld.
  • Wer ungefähr weiß, welche Repressionen denen drohen, die in Staaten wie Russland Theater machen, der wird schnell erkennen, dass die Flitzerei ein politischer Akt war.
  • Die Aktivisten weisen damit nämlich auf ungerechte und willkürliche Autorität hin, die unabhängig von der WM tagtäglich in Russland passiert.

Von Holger Gertz

Die notorische Bild-Zeitung hatte bei dieser Weltmeisterschaft laut Schlagzeile "Das irrste WM-Finale aller Zeiten" gesehen. Und so irre war es laut Unterzeile auch deshalb gewesen, weil es neben "Video-Elfer" und "Sintflut-Regen" auch den Auftritt der "Flitzer" enthalten hatte, die ja für den erfahrenen deutschen Fernsehfußball-Fan lustige Vögel sind, die gern mal quer über den Platz laufen, und das auch noch nackt.

Weil inzwischen auch Flitzerinnen in Erscheinung getreten sind, ist der klassische Fernsehfan manchmal ein wenig enttäuscht, weil bei Großturnieren immer so schnell weggeblendet wird, wenn Flitzer oder Flitzerin sich auf den Weg machen. Der Flitzer ist eine schöne Abwechslung, der Flitzer tut auch keinem weh. Und wenn die Polizisten dann dem Flitzer hinterherrennen, sieht das so aus wie bei einer Verfolgungsjagd früher im Vorabendprogramm, "Väter der Klamotte".

Das ist Fußball im Spätkapitalismus: Man kann das Spiel schön konsumieren, und auch die ritualisierte Störung des Spiels durch den Flitzer.

Keine Halbstarke, sondern moderne Form des Bürgeraktivismus

Die Flitzer, die in der 52. Minute das Endspiel der Weltmeisterschaft in der Autokratie störten, fallen allerdings nicht in die Unterhaltungskategorie, wie die Autorin und Russland-Expertin Masha Gessen schon kurz nach dem Finale online im New Yorker erklärt hat. Es waren nicht irgendwelche Halbstarke, die die grüne Mitte des Luschniki-Stadiums enterten, sondern vier Mitglieder der russischen Performance-Künstlergruppe Pussy Riot. Pussy Riot: Wird gern als Punkband bezeichnet, wird auch immer wieder mal mit der in der Ukraine begründeten feministischen Initiative Femen verwechselt. Ist aber tatsächlich eine Künstlergruppe, die ihre Aktionen auf Video festhält und im Internet auch schriftlich begründet und erklärt. Eine moderne Form des Bürgeraktivismus, vergleichbar mit den Graffiti-Sprayern in den Siebzigern.

Wer ungefähr weiß, welche Repressionen denen drohen, die in Staaten wie Russland Theater machen, der wird schnell erkennen, dass die Flitzerei über den Endspielrasen weder Amusement noch Selbstzweck war, sondern ein politischer Akt. Die Gruppe hatte im Netz, parallel zu ihrem Platzsturm, eine Liste von Forderungen veröffentlicht, einen Katalog, von dem sich Politiker und Juristen in Putins Reich angesprochen fühlen können. "Lasst alle politischen Gefangenen frei." - "Verhaftet Menschen nicht für Likes in sozialen Medien." - "Stoppt illegale Verhaftungen bei Kundgebungen." - "Ermöglicht politischen Wettbewerb in Russland." - "Sperrt Leute nicht länger wegen Nichts ins Gefängnis." - "Macht einen himmlischen Polizisten aus dem irdischen Polizisten."

Die ersten fünf Punkte sind identisch mit dem, was Menschenrechtsorganisationen von Russland immer fordern (der Fifa, man hat es während der WM gemerkt, ist's vergleichsweise wurscht). Was die himmlischen und irdischen Polizisten angeht, wird ein Motiv des Künstlers Dmitri Prigow aufgegriffen, der zeitlebens ein Kämpfer für das Menschenrecht gewesen ist, auf den Tag genau vor elf Jahren ist er gestorben. Und sein Wunsch, dass der himmlische, weise Polizist das Leben regeln möge und nicht der willfährige irdische Polizist, ist eine Vision geblieben.

Der Polizist stört das Spiel: So war der Auftritt der Flitzer in Uniform ein getimter und geplanter anarchistischer Akt und die tatsächlich einzige sichtbare Aktion, die all jene dunklen Seiten ins Bewusstsein brachte, von denen die Zeremonienmeister bei dieser Weltmeisterschaft so gerne ablenken wollten. "Pussy Riot haben auf einer der größten Bühnen der Welt ein Abbild von ungerechter und willkürlicher Autorität geschaffen, mit der 145 Millionen Russen Tag für Tag leben müssen", schreibt Masha Gessen im New Yorker, und tatsächlich ist es erstaunlich, dass den Aktivisten das gelungen ist beim wichtigsten Spiel einer Weltmeisterschaft, die gegen jede Erschütterung ausgepolstert zu sein schien, es aber dann doch nicht war.

Am Montagabend verurteilte ein Gericht in Moskau die vier Flitzer zu je 15 Tagen Gefängnis.

Eine der Aktivistinnen hat sich abgeklatscht mit dem französischen Helden Kylian Mbappé, auch wenn Mbappé nicht gewusst hat, wem er die Handflächen anbietet - es war ein schönes Bild. Und es gehört in jeden Rückblick auf diese WM: der Moment, wo die Scheinwelt mit dem Leben in Berührung kommt.

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Quelle:
SZ vom 17.07.2018/dsz
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