Süddeutsche Zeitung

Fußball:Das sind die ersten Trends der WM

Von Martin Schneider, Moskau

1:0-Siege

Diese WM ist im Binärcode angekommen. Von den ersten 26 Spielen endeten zehn 1:0, drei weitere 1:1. Ein Tor ist oft genug, Meister der Effizienz ist bislang Uruguay, das mit zwei 1:0-Siegen im Achtelfinale steht. Die einzige Mannschaft, die mehr tut, als sie müsste, ist Russland. Ist das ein neuer Trend? Nicht ganz, schon bei der Europameisterschaft 2016 dominierte das Einsnull den ersten Spieltag. Der Grund: Niemand will schlecht ins den Wettbewerb starten, Mannschaften dosieren das Risiko, und bei der Fifa ist im Gegensatz zu dem Uefa-Turnier das Torverhältnis und nicht der direkte Vergleich entscheidend. Teams wählen erst dann ambitioniertere Strategien, wenn die Tabelle sie dazu zwingt - wie Argentinien im zweiten Spiel nach dem 0:1-Rückstand gegen Kroatien. Dann müssen die Trainer mehr Stürmer einwechseln, die Teams werden hinten offener und fangen sich in der Schlussphase noch Gegentore.

Immerhin: Bis Freitag gab es keine einzige echte Nullnummer. Rechnet man die Elfmeter mit ein, fielen 24 der ersten 51 WM-Tore nach Standard-Situationen. Ein unglaublicher Wert von fast 50 Prozent. Zum Vergleich: In der vergangenen Bundesliga-Saison fielen nur knapp 32 Prozent aller Treffer nach Ecken, Freistößen oder Elfmetern. Schon bei der WM in Brasilien war der Erfolg nach ruhendem Ball auffällig, damals erklärten es Joachim Löw und sein Team mit den klimatischen Verhältnissen. Wer in der Hitze nicht so viel laufen kann, der muss eben anders zum Torerfolg kommen. Das klang schlüssig. Nun ist der russische Sommer auch nicht gerade kühl - aber doch weit entfernt von der Schwüle Brasiliens. Eine Erklärung für die Flut? Standard-Situationen sind einfach zu trainieren, und als Nationalmannschaft hat man nicht so viele Trainingseinheiten wie eine Vereinsmannschaft. Man bekommt also in wenig Zeit relativ viel Ertrag. Die Schwäche dieser Erklärung: Auch das Verteidigen von Standards, ist eigentlich nicht so schwer zu trainieren. Ebenfalls ein WM-Trend: Eigentore. Aber die sind noch weniger rational zu erklären.

Kaum Comebacks

Die aufregendsten Fußballspiele sind jene, die einmal vom Bauch auf den Rücken gedreht werden, aber bei dieser WM wendet sich erst am Freitag eine Partie. Das heißt aber auch: In 25 Spielen vorher tat sich in dieser Hinsicht fast nichts, fast jede Mannschaft, die bislang in Führung ging, gewann auch das Spiel. Im Gegensatz zu den Standard-Toren kann man diese Beobachtung aber mit einer Eigenart des modernen Fußballs erklären, die lautet: Verteidigen ist einfacher als angreifen. Mit dem Ball zu spielen, ist schwerer als ohne Ball; und sobald eine Mannschaft führt und sich auf das Verschieben ihrer Abwehrketten konzentrieren kann, fällt es Nationalteams, die per Definition weniger eingespielt sind als Vereinsmannschaften, schwer, da durchzuspielen. Selbst die Edeltechniker aus Spanien hatten Probleme, durch die iranische Mauer zu kommen.

Videoschiedsrichter funktioniert

Das Handspiel des Leipziger Yussuf Poulsen war die große Ausnahme: Im Spiel Dänemark gegen Australien sprang ihm der Ball an die Hand, Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz entschied erst korrekt: kein Handspiel, weil die Reaktionszeit viel zu kurz war, um Poulsen Absicht zu unterstellen - ließ sich dann aber vom Videoschiedsrichter korrigieren und gab Elfmeter für Australien. Möglicherweise, weil die Zeitlupe dann doch die Realität zu sehr verzerrte oder einfach, weil die Handspiel-Regel schwammig formuliert ist. Aber insgesamt funktioniert das Video-Assistent-Referee-System. Am Freitag nahm Björn Kuipers zurecht einen Elfmeter zurück, den Neymar theatralisch schinden wollte.

Die hohe Qualität des Kontrollsystems ist insofern überraschend, als es in der Bundesliga bedingt funktioniert und man vor dem WM-Turnier der Meinung war, dass es niemals gut gehen könne, wenn sich ein Videoschiedsrichter mit drei Videoschiedsrichterassistenten aus verschiedenen Ländern eine Szene auf dem Bildschirm anschaut. Wie sollen sie schnell entscheiden? Es klappt aber nun vor allem deswegen, weil die Fifa die Eingriffsschwelle viel höher angesetzt hat, als es in der Bundesliga der Fall ist. Der Videoschiedsrichter kommt nur bei krassen Fehlentscheidungen zum Einsatz. Das hilft allen Beteiligten und nimmt den Druck. Dass die Szenen im Stadion auf der Anzeigetafel angezeigt werden, sorgt für eine Transparenz, die in Deutschland ebenfalls fehlt.

Harte Zweikämpfe

Neben dem Videoschiedsrichter fällt auf, dass Schiedsrichter tendenziell mehr laufen lassen, als man es in der Bundesliga gewohnt ist. Was die Bewertung von Zweikämpfen angeht, dominiert die englische Linie: Im Zweifel lieber laufen lassen. Davon war vor allem die deutsche Nationalmannschaft irritiert, oft lag ein DFB-Spieler auf dem Boden und reklamierte - bekam aber keinen Freistoß. Diese Auslegung der Regeln hilft vor allem den schwächeren Teams. Zweikämpfe kann jeder führen. Und wenn die Gangart härter wird, haben es Techniker schwerer, ihr feines Spiel aufzuziehen. Kroatien nutzte diese Linie gegen Argentinien am konsequentesten aus, Senegal unterband die meisten polnischen Angriffe ebenfalls durch sehr beherzte Tacklings. Auch bei der Nachspielzeit orientiert sich die Fifa an der englischen Premier League. Dort ist es nicht so ungewöhnlich, dass länger als fünf Minuten nachgespielt wird, in der Bundesliga leuchtet regelmäßig einfach eine "2" auf - unabhängig davon, wie viele Unterbrechungen es gab.

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SZ vom 23.06.2018/tbr
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