Süddeutsche Zeitung

WM-Qualifikation:Spanien gegen Italien - zwei Teams spielen um ihre Zukunft

Im Spitzenspiel der WM-Qualifikation geht es vielleicht um alles - weil sich auch in Gruppe G nur der Tabellenerste direkt für Russland 2018 qualifiziert.

Von Oliver Meiler, Rom

Man sieht Giampiero Ventura die reißende Begierde, die offenbar in ihm wohnt, nicht auf Anhieb an. Der neue Coach der italienischen Nationalmannschaft gehört eher zur Kategorie der stillen Leider: Arme verschränkt, verkniffene Leidenschaft. Vor der Presse ist er ständig bemüht, mit tiefer, rauer Stimme alle Dramatik aus dem Spiel zu nehmen, alle Polemik zu relativieren. Der 68-jährige Norditaliener hat schon viel erlebt in seiner langen, nicht sehr glanzvollen Karriere in der Fußball-Provinz. Aber es gibt da diese Geschichte mit der Begierde.

Ventura sagte einmal, für ihn sei das Trainieren einer Mannschaft "pure Lust". Gemeint war jene Art Lust, die man sonst nur bei intensiver, intimer Zwischenmenschlichkeit spürt. Seither hängt ihm der Übername "Mister Libido" an - wie ein Kontrast. Denn als Ventura vor einigen Monaten zum Nachfolger des vulkanischen Antonio Conte berufen wurde, hielt sich die Erregung im Publikum in sehr engen Grenzen.

Wenn Italien nun an diesem Donnerstag in Turin gegen Spanien das Spitzenspiel in der WM-Qualifikation austrägt, eine Art Clasíco Südeuropas, geht es schon um viel. Vielleicht sogar um alles, weil sich auch in der Gruppe G nur der Tabellenerste direkt für Russland 2018 qualifiziert. Der Druck gilt für beide Teams, für beide Trainer. Auch Spanien versucht gerade, sich mit einem neuen Coach zurechtzufinden.

"Spanien war, bei allem Respekt, ein abgelöschtes Team"

Wobei dem Basken Julen Lopetegui, der auf Vicente del Bosque folgte, die Aufgabe zufällt, die erfolgreichste Nationalmannschaft der letzten Dekade weiterzuentwickeln, einen Generationenwechsel einzuleiten, eine markante Spielidee ein bisschen zu revolutionieren - "Tiki-taka 2.0" heißt das Schlagwort, Ballbesitz mit mehr vertikalen Momenten. Die Gegner sollen Spanien nicht mehr durchschauen können, wie sie das zuletzt so leicht konnten.

Besonders eklatant war das ausgerechnet gegen Italien, Ende Juni in Paris, im Achtelfinale der EM. Die Azzurri standen hoch, verwandelten das Mittelfeld in einen Schwitzkasten, ließen den Spaniern weder Luft noch Raum und gewannen verdient 2:0. Als man Ventura an diesen Sieg erinnerte, der wohl nicht unwesentlich der Motivationskraft und der taktischen List seines Amtsvorgängers Conte geschuldet war, sagte er nun, der Vergleich sei nicht statthaft: "Spanien war, bei allem Respekt, ein abgelöschtes Team."

Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass der energische Lopetegui die Abgelöschten zu wecken vermag, dass er dem Spiel neuen Schwung beimischt. Der Personalwechsel ist bereits im Gang. Im Aufgebot stehen mittlerweile acht Profis, die 2013 U21-Europameister geworden waren - unter Lopetegui, der damals Nachwuchstrainer war. Dabei sind unter anderen: Koke, Isco, Alvaro Morata, Thiago Alcántara, Dani Carvajal. Nicht alle sind gesetzt, doch alle drängen mächtig nach.

Italien dagegen lebt noch ganz von seinen "sicheren Occasionen", wie die Gazzetta dello Sport die Veteranen im überreifen Nationalteam wenig charmant nennt. Trainer Ventura vertraut wie Conte auf ein defensives 3-5-2, in dem die beiden Flügel sich in erster Linie nach hinten orientieren. In der angestammten Verteidigung, die seit Jahren identisch ist mit jener von Juventus Turin, fehlt gegen Spanien Giorgio Chiellini wegen einer Sperre. Im Sturm stehen wie schon bei der EM Graziano Pellè, der mittlerweile in China viel Geld verdient, und der eingebürgerte Brasilianer Eder, der bei Inter Mailand noch immer kaum spielt. Von den beiden erwartet man vor allem wieder viel Aufopferung ganz vorne, viel Pressing. Tore? Nähme man als Extra auch gerne dazu.

"Mister Libido" mag tief in sich drinnen viel Freude am Coachen haben. Experimente aber scheint Ventura nicht so zu mögen. Es gäbe nämlich gerade in der Offensivabteilung einige Spieler, die in blendender Verfassung sind: Nicola Sansone etwa, der frühere Münchner, hat für den FC Villarreal in sechs Spielen vier Mal getroffen; Andrea Belotti vom FC Turin erzielte in fünf Begegnungen der laufenden Serie A fünf Tore. Und dann wäre da natürlich noch Mario Balotelli. Zwei Jahre lang war er out gewesen, verstrickt in seine eigenen Widersprüche, überfordert von der medialen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Seitdem er nun in Nizza spielt, blitzt das üppig verschwendete Talent wieder auf - ein bisschen wenigstens, und das ist in seinem Fall schon recht viel.

Nizza habe er gewählt, weil das Klima dort so gut sei, das Meer, die Sonne. "Ganz ehrlich", sagt Balotelli, "das mag trivial klingen, aber für mich war das wichtig nach meiner in Zeit Liverpool und Mailand." Der Stürmer findet, seine Nichtberücksichtigung in der Nationalelf sei eine ganze Zeit lang "berechtigt" gewesen - aber jetzt wäre er wieder reif für eine Berufung. Nominiert also Ventura den Wiedererstarkten nicht bald, könnte sich der Druck der Öffentlichkeit in dieser Frage schnell zum Sturm auswachsen. Die Fans vermissen eben das Spektakel, eine Dosis Verrücktheit auch.

Als der Verband Ventura zum Commissario tecnico machte, waren viele enttäuscht. Er hatte zuvor noch nie ein großes Team trainiert, nie einen Titel gewonnen, mit keiner Mannschaft je international gespielt. Der "Fußballlehrer", wie er angekündigt wurde, war auch nur die vierte oder fünfte Wahl. Selbst Premierminister Matteo Renzi schaltete sich ein, als sich abzeichnete, dass Ventura ausgewählt würde. Der fußballbegeisterte Renzi riet lieber zu einem "modernen, jungen Trainer" - und er hatte auch eine klare Vorstellung: Vincenzo Montella, Coach des AC Mailand. Die beiden kennen sich aus Zeiten, als Montella Renzis Lieblingsverein AC Florenz trainiert hatte. Dessen Empfehlung aber kam wie eine politische Einmischung daher, unbotmäßig und kontraproduktiv.

Ventura ist eine recht billige Lösung: 1,3 Millionen Euro verdient er im Jahr - etwa ein Drittel von dem, was Conte kassiert hatte. Und selbst wenn sich Italien direkt für die WM in Russland qualifizieren sollte, gäbe es keine Prämie für den Trainer. So steht es im Vertrag. Gewänne Italien aber gegen Spanien, wäre wohl alle Geringschätzung des italienischen Publikums schnell verflogen.

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SZ vom 06.10.2016/fued
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