Das Godswill Akpabio International Stadium der nigerianischen Stadt Uyo kennt Gernot Rohr nur zu gut, mehr noch: Er hat es in bester Erinnerung. „2017 haben sie mich dort auf Schultern hinausgetragen“, sagt er am Telefon. Damals hatte Rohr, 72, Nigerias Fußballnationalmannschaft zur Weltmeisterschaft in Russland geführt. Nun kehrt er zurück, mit der erklärten Absicht, den Nigerianern eine Party zu verhageln. Denn er ist jetzt Coach der westafrikanischen Republik Benin, die es als Tabellenführer der Gruppe C am letzten Spieltag der Afrika-Qualifikation als einziges Team der Gruppe in der eigenen Hand hat, die WM zu erreichen.
Es wäre ein in vielerlei Hinsicht erstaunlicher, beispielloser Erfolg für ein Land, das eher als Wiege des Voodoo bekannt ist denn als Fußballnation. Die 14-Millionen-Einwohner-Nation war noch nie bei einer WM dabei; sollte sie es schaffen, würde sie wohl als einer der unterentwickeltesten Teilnehmer der WM-Geschichte gelten. Zumindest wenn man den Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung im Jahr 2025 zugrunde legt. Dort belegt Benin mit einem Wert von 0,515 den 173. Platz von 193 Ländern, Deutschland schaffte es mit 0,959 unter die ersten Fünf. Die Lebenserwartung im auch in Menschenrechtsfragen stets kritisierten Benin liegt bei 60,8 Jahren, in Deutschland bei 81,4.
Und nun landen beide im aufgeblähten 48-er Feld der Weltmeisterschaft, das unter anderem um vier weitere afrikanische Mannschaften erweitert wurde? „Die Hoffnungen in Benin sind enorm“, sagt Rohr, der von seinem langjährigen Assistenten Nabil Trabelsi und dem früheren Bundesligaprofi Moussa Latoundji (Energie Cottbus) begleitet wird.
Rohr übernahm die Mannschaft im Jahr 2023, kurz nachdem Benins Regierung die Symbolik der Nationalmannschaft veränderte. Wie viele afrikanische Teams hatte auch Benin einen Spitznamen aus der Welt der Tiere, „Les Écureuils“ nannten sie sich, die Eichhörnchen. Das klang zwar hübsch, aber nicht einschüchternd. Aus den Eichhörnchen wurden auf Geheiß der Exekutive „Geparden“, nach den Raubkatzen, die man im Norden des Landes findet. Et voilá: die Resultate des „frankofonen und frankophilen Landes“ (Rohr) stimmen. Trotz schwieriger Bedingungen.
Benin muss seine Heimspiele in Stadien in der Elfenbeinküste austragen
Zwar haben die in Afrika seit Jahren extrem präsenten Chinesen „im ganzen Land zwanzig, dreißig Stadien mit Kunstrasenplätzen gebaut, die alle gleich aussehen“, berichtet Rohr. Aber in keiner Arena wurden vom Weltverband Fifa Qualifikationsspiele genehmigt; Benin spielte deshalb in der Elfenbeinküste, mitunter unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Den vorletzten Beniner „Heim“-sieg im Stade Olympique Alassane Ouattara von Abidjan gegen Simbabwe (1:0) bezeugten 457 Zuschauer.
Auch sportlich war die Gruppe derart anspruchsvoll, dass die Voodoo-Priester des Landes wohl entlassen gehören oder das Interesse am Fußball verloren haben müssen. Andererseits gilt immer noch, was der englische Fußball-Autor Ian Hawkey in seinem 2010 erschienenen Buch „Feet of the Chameleon – die Geschichte des afrikanischen Fußballs“ schrieb: Wenn der Voodoo und all die leeren Schildkrötenpanzer, Pavianköpfe, Schlangenkadaver und muschelbehangenen Fetischpuppen wirklich funktionieren würden, dann wäre Benin unter den führenden Fußballnationen Afrikas.

Das ist Benin nicht. Aber: Vor dem letzten Gruppenspieltag ist es mit 17 Punkten zusammen mit Nigeria (15) sowie Südafrika (14), das Ruanda empfängt, eine von drei Mannschaften mit Aussicht auf den Gruppensieg. Das liegt auch daran, dass Südafrika wegen des Einsatzes eines nicht spielberechtigten Fußballers drei Punkte abgezogen wurden. Doch ob das reicht?
Sollte Benin in Nigeria Unentschieden spielen, müsste Rohr darauf hoffen, dass Ruanda nicht von Südafrika überrollt wird. Nicht nur in Benin schauen sie mit einigem Argwohn darauf, dass der Präsident des Afrikaverbandes aus Südafrika kommt – die Mutmaßung ist, dass er seine Mannschaft gewiss gern bei der WM sähe. „Es gibt hier keinen Videoschiedsrichter“, sagt Rohr, und man kann meinen, dass es vielsagend klingt.
Dass die Aufgabe in Nigeria schwer genug wird, weiß keiner besser als Rohr selbst. Nicht nur, weil er dort Nationaltrainer war, sondern weil er den afrikanischen Fußball bestens kennt. Er war auch in Burkina Faso, Niger und Gabun Nationalcoach, in Tunesien war er mal bei ES Sahel angestellt.
Rohr kann unter anderem auf Andreas Hountondji vom FC St. Pauli zurückgreifen
Rohr schwärmt von den nigerianischen Offensivkräften wie Victor Osimhen (Galatasaray), Ademola Lookman (Atalanta Bergamo), Alex Iwobi (FC Fulham) oder Victor Boniface (Werder Bremen), die in Europa einen Namen haben, und vor allem von Nigerias prall gefüllter Ersatzbank. Benin hat zwar den einen oder anderen interessanten Spieler, etwa den 31-jährigen Mittelstürmer Steve Mounié (Alanyaspor/Türkei) oder Andreas Hountondji vom Bundesligisten FC St. Pauli. Aber Rohr muss auch über drei verletzte und zwei gelbgesperrte Stammspieler klagen.
Wie er das wettmachen möchte? „Der Druck lastet klar auf Nigeria, der ist nicht bei uns“, sagt Rohr: „Wir haben eine Mannschaft, die Begeisterung und Solidarität gezeigt hat und mental stark gewesen ist. Die Konzentration wird eine ganz wichtige Rolle spielen.“ Und vielleicht haben die Nigerianer ja den Schrecken vom Rückflug aus Angola in den Knochen: Wegen eines Risses in der Windschutzscheibe musste der Pilot ihren Flieger nach einer Zwischenlandung kurz notlanden.

