WM-Proteste:Brasiliens Polizei holt den letzten Indianer vom Baum

Police officers take positions outside the Indian Museum, next to the Maracana stadium, during a protest in Rio de Janeiro

Misstrauisch: Polizeikräfte vor dem Indianermuseum in Rio de Janeiro

(Foto: REUTERS)

Gummiknüppel gegen Federschmuck: Urutau Guajajara besetzt in Rio stundenlang einen Baum, er protestiert gegen den Abriss des Indianermuseums vor dem Maracanã-Stadion. Es ist im Gastgeberland der Fußball-WM nicht der einzige Fall, in dem Brasiliens Polizei und Justiz hart gegen Demonstranten vorgehen.

Von Konstantin Kaip, Rio de Janeiro

Das dichte Grün der Baumkrone schützt Urutau Guajajara. Von unten ist der Mann mit den langen grauen Haaren und der Kriegsbemalung im Gesicht kaum zu erkennen. Wie ein Jaguar kauert er am Anfang der Woche schweigend im Schatten des Wipfels, bekleidet lediglich mit schwarzweiß gemusterten Badeshorts und Federschmuck.

Der Baum, in dem er sitzt, steht vor dem ehemaligen Indianermuseum in Rio de Janeiro. Ein heruntergekommenes historisches Häuschen, das mit seinen eklektizistischen Formen und der bröckelnden graffitiverzierten Fassade einen auffälligen Kontrast zum glatten grauen Beton des Bauwerks gegenüber bildet: dem Maracanã-Stadion. Weil das Häuschen auch die Besucher der WM im kommenden Jahr irritieren könnte, haben Polizisten das von indigenen Aktivisten besetzte Gebäude am Montagmorgen geräumt. Urutau Guajajara war der einzige, der dem Zugriff entkommen konnte. Er flüchtete sich auf den Baum und weigert sich seitdem, herunterzukommen.

Am Abend hat die Polizei das Gelände mit einem Zaun abgesperrt, um die etwa 50 Demonstranten, die Guajajara ihre Solidarität bekunden, fernzuhalten. In fast doppelter Stärke stehen die Beamten mit Panzerglasschilden und Gummiknüppeln bereit, während sich hundert Augen, zig Smartphones und mehrere Fernsehkameras auf den Baum richten, in dem Urutau Guarajajara sitzt.

Sobald sich die Zweige bewegen, geht ein Raunen durch die Menge. "Halt aus, Urutau!" rufen die Demonstranten, als sich zwei Feuerwehrmänner auf einer weißen Hebebühne der Baumkrone nähern. Ihre Bemühungen, mit Sägen und Heckenscheren Zweige zu kappen, um besser an den Baumbesetzer heranzukommen, werden ausgepfiffen. "Schoßhündchen von Cabral!" rufen die Demonstranten den Feuerwehrmännern zu. Sie meinen den Gouverneur des Staates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, der die Räumung des Hauses angeordnet hat.

Das Gebäude aus dem Jahre 1862 war seit 1910 Sitz der staatlichen Behörde zum Schutz der indigenen Kulturen Brasiliens. 1953 installierte der Anthropologe Darcy Ribeiro dort das Indianermuseum, bis es 1978 in ein Gebäude im Stadtteil Botafogo umzog. 2006 besetzten indigene Aktivisten das leerstehende Haus und ernannten es zur "Aldeia Maracanã", einer indigenen Dorfgemeinschaft in der Stadt.

Platz für Parkplätze

Das Areal, so ihr Argument, gehöre den indigenen Völkern Brasiliens. Der Bundesstaat Rio de Janeiro erwarb das Grundstück jedoch 2012 von der brasilianischen Regierung. Im Zuge des Stadionumbaus für die WM sollte das Gebäude zusammen mit einer städtischen Schule und Sportanlagen abgerissen werden, um Parkplätzen und Geschäften Platz zu machen, die das für den Stadionbetrieb verantwortliche private Konsortium errichten wollte.

Nach heftigen Protesten wurden die Abrisspläne jedoch auf den Anbau beschränkt, die Landesregierung kündigte eine Renovierung des historischen Gebäudes an. Weil es keinen konkreten Zeitplan gab, weigerten sich die Besetzer, das Areal zu verlassen. Im März 2013 räumte die Polizei das Grundstück und siedelte die etwa 60 dort ansässigen Indianer in den Vorort Jacarépaguá um. Viele aber kehrten zurück, seit Sommer besetzten Vertreter von 21 verschiedenen Ethnien das Grundstück. Unter den Evakuierten am Montag waren auch Kinder und schwangere Frauen.

"Schwarz und arm zu sein ist in diesem Land ein Verbrechen!"

Urutau Jose Guajajara, who belongs to the native Indian community, looks out from the top of a tree inside the Indian Museum, next to the Maracana stadium, during his protest in Rio de Janeiro

Baumbesetzer: Urutau Jose Guajajara

(Foto: REUTERS)

Nur Urutau Guajajara war nicht dabei. Er flüchtete auf den Baum und wurde so kurz vor Beginn des WM-Jahres 2014 zum Helden der Protestbewegung in Rio - wie der Hausbesetzer-Aktivist Jaír Seixas, ganannt Baiano. Der sitzt seit Oktober in Untersuchungshaft, weil er einen Polizeibus in Brand gesetzt haben soll. Ähnlich berühmt ist der Obdachlose Rafael Braga Vieira, der als erster Demonstrant der neuen Protestwelle eine Haftstrafe erhalten hat.

Rafael war am Rande einer Demonstration am 20. Juni festgenommen worden, weil er zwei Plastikflaschen mit Desinfektions- und Putzmittel dabei hatte. Anfang Dezember wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er "Molotow-Cocktails" mit sich geführt habe. In den etablierten Medien wurde das kaum diskutiert. Sehr wohl in den alternativen Foren im Internet.

Auf Kosten der Unterprivilegierten

Für die Menschen, die man auf den Kundgebungen trifft, sind das Urteil gegen Rafael und der laufende Prozess gegen Baiano bewusst gesetzte Exempel, mit denen die Justiz die Demonstranten kriminalisieren und die Bevölkerung einschüchtern will - auf Kosten der Unterprivilegierten. "Schwarz und arm zu sein ist in diesem Land ein Verbrechen!", klagte ein Demonstrant am Montag ins offene Megaphon vor dem Gerichtsgebäude, in dem Baiano der Prozess gemacht wird. Doch auch diese Demonstration war spärlich besucht, die Zahl der Polizisten überstieg die der Demonstranten um ein Vielfaches.

2013 war ein bewegtes Jahr für Rio de Janeiro: Nach den Massenprotesten während des Confed-Cups im Sommer, bei denen Hunderttausende mehr Geld für Bildung und medizinische Versorgung forderten, gab es eine zweimonatige Rathausbesetzung, die nach dem Lehrerstreik im Oktober gewaltsam beendet wurde.

Seitdem ist es ruhiger geworden auf den Straßen Rios, zumindest was die politischen Proteste angeht. In wenigen Tagen gibt es die große Silvesterparty, zu der alleine 750 000 Touristen an der Copacabana erwartet werden. Das politische Klima könnte sich aber schon bald darauf ändern. Denn kürzlich hat der Bürgermeister Eduardo Paes eine Erhöhung des Bustarifs um 30 Centavos angekündigt. Wenn sie in Kraft tritt, wird das Folgen haben. Für eine auf Facebook angekündigte Demonstration Mitte Januar haben sich schon mehr als 1000 Leute angemeldet.

Auch am 13. Juli, wenn zum WM-Finale die ganze Welt auf Rio schaut, werden zahlreiche Cariocas auf der Straße protestieren. Die Bilder vom Maracanã, das man vorsorglich weitläufig abriegeln wird, werden sie jedoch nicht stören. Ebenso wenig wie Urutau Guajajara: Am Dienstagmorgen holten die Beamten den Indianer nach mehr als 24 Stunden von seinem Baum.

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