Fußball-WM:Deutschland muss in den Abstiegskampf

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Der deutsche WM-Kader ist voller Profis, die es gewohnt sind, Triumphe zu feiern. Das Problem: Für einen Sieg im verfrühten Endspiel gegen Schweden gibt es keinen Pokal. Es geht darum, eine nationale Katastrophe abzuwenden.

Kommentar von Philipp Selldorf, Sotschi

Matthias Lehmann, 35, hat im Laufe seiner Karriere 185 Bundesliga- sowie 252 Zweitligaspiele bestritten und außerdem einen weisen Satz gesprochen: "Fußball ist zu 80 Prozent Kopf." Mit dieser prägnant verdichteten Formulierung wollte Lehmann seine empirische Erkenntnis ausdrücken, dass es zu weit überwiegenden Teilen Geist und Befinden seien, die über den Erfolg im Fußball entschieden. Für die Beine (deren Anteil Lehmann korrekt mit 20 Prozent bezifferte) bleiben demnach lediglich Handlangerfunktionen.

Lehmanns Rechnung ist nicht die Rechnung eines Exzentrikers. Eine Blitzrecherche zeigt, dass die Kalkulationen anderer Praktiker des Fußballgeschäfts die gleichen Zahlen und Relationen ergeben haben. Zu ihnen gehören zum Beispiel der Torwart René Adler und sein schweizerischer Kollege Jörg Stiel sowie der vielfach prämierte Trainer Ottmar Hitzfeld, der es anders sagte, aber genauso meinte: "80 Prozent des Erfolgs im Fußball ist Psychologie."

Was heißt das nun für die deutsche Mannschaft vor ihrem Spiel gegen Schweden? Gemessen daran, dass die läuferischen Aktivitäten der Deutschen im Spiel gegen Mexiko ein klägliches Bild ergaben, wird es vielleicht manchen Fan erfreuen, dass die Beine in Wahrheit bloß eine Nebenrolle versehen. Aber dass den deutschen Spielern bei der Bewältigung ihrer schicksalhaften Aufgabe vor allem Kopfarbeit bevorsteht, das kann man zum Anlass für Bedenken nehmen.

Der deutsche WM-Kader ist ein Kader voller Profis, die es gewohnt sind, Triumphe zu feiern. Das ist ihnen auch in diesem Sommer gelungen: Toni Kroos hat mit Real Madrid wieder mal den größten Preis des Vereinsfußballs abgeräumt, Sami Khedira mit Juventus Turin wie üblich das italienische Double; Ilkay Gündogan hat mit Manchester City die englische Liga dominiert, Julian Draxler und Kevin Trapp mit Paris Saint-Germain die französische, Marc-André ter Stegen mit dem FC Barcelona die spanische. Dazu kommen sieben FC-Bayern-Meister. Trainiert werden diese Erfolgsmenschen von einem Erfolgstrainer, der als Weltmeister und Confed-Cup-Sieger firmiert.

Dieses Team weiß, wie es Titel gewinnt, aber weiß es auch, wie es in einem Abstiegskampf besteht? Das Endspiel gegen Schweden ist Abstiegskampf in hochkonzentrierter Form, es gibt dafür keinen Pokal, sondern bloß drei Punkte für den Klassenerhalt, schon ein Remis wäre eine sportliche und nationale Katastrophe. Jawohl: Katastrophe!

Im Abstiegskampf sind die äußeren Bedingungen wie immer, und doch ist es eine andere Art von Fußball. Typisches Muster: Teams, die unten stehen, wähnen sich meistens in einem seit Christi Geburt nie da gewesenen Pech. Abstiegskampf ist so eine spezielle Sportart, dass vor ein paar Jahren sogar der riesengroße Mund von Jürgen Klopp sprachlos stillstand, als er mit Borussia Dortmund eine Absteiger-Hinrunde hinlegte - und zur Rückrunde trotz teurer Einkäufe und therapeutischer Sitzungen nicht aufhörte zu verlieren.

Durchaus zersetzende Debatten erschweren die Lage der DFB-Elf

Das Dortmunder Team war damals viel besser als sein Tabellenplatz (weshalb es letztlich sogar noch in den Europacup kam), aber es hatte sich in den unbekannten Abstiegskampf verirrt und fand nicht mehr heraus aus dessen Zwängen. Kopfsache, wie Matze Lehmann sagen würde. Die sportliche Klasse des BVB-Teams setzte sich am Ende durch, weil Klasse auf Dauer Überlegenheit herstellt. Aber so viel Zeit hat die deutsche Mannschaft in diesem WM-Turnier nicht. Dass sie zuletzt in ihrer Mitte einige durchaus zersetzende Debatten ausgetragen hat (etwa infolge der Erdoğan-Affäre), erschwert die Lage.

Übertragen auf die Nationalelf, könnte die Geschichte von der psychologischen Verstrickung des BVB also folgende Lehre enthalten: Das Spiel gegen Schweden wird den Meistern und Weltmeistern und ihrem Erfolgstrainer wahrscheinlich größere Sorgen bereiten als all die K.-o.- und Finalspiele, die sie in den vergangenen acht Jahren zusammen bestritten haben.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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