Süddeutsche Zeitung

WM in Hochfilzen:Kreuzfeuer in der Biathlon-Familie

Trotz immer neuer Indizien für Staatsdoping zeigen die russischen Biathleten weder Reue noch Einsicht. Die Atmosphäre ist giftig - die Wut der anderen bricht sich offen Bahn.

Von Joachim Mölter, Hochfilzen

Im Sport wird gern und viel darüber geplaudert, dass alle eine große Familie sind, die Biathleten plakatieren diese Botschaft sogar bei ihrer WM in Hochfilzen: "The Biathlon Family" steht auf dem Podium, auf dem die Medaillengewinner sitzen und etwas erzählen sollen. "Wir sind wirklich eine große Biathlon-Familie", erzählt am Donnerstagabend zum Beispiel Laura Dahlmeier, die frisch gekürte Goldgewinnerin in der Mixed-Staffel. Sie erzählt es freilich abseits des Podiums, an der gleichen Stelle, an der ihr Teamkollege Arnd Peiffer ein paar Minuten vorher gesagt hat: "Eine Familie ist's nicht unbedingt."

Wenn sich nicht einmal zwei Athleten aus einem Land, einer Mannschaft, einer Staffel einig sind, ob sie sich als Familie verstehen oder nicht, verrät das einiges: Falls die Biathleten eine Familie sein sollten, sind ihre Verhältnisse gerade ziemlich zerrüttet.

Am Donnerstagabend ist sogar das Wort "Krieg" gefallen, der Russe Anton Schipulin hat es verwendet, als er auf dem Family-Podium saß. "Das russische Biathlon-Team ist eine große Familie, und wenn ein Mitglied angegriffen wird, wenn uns jemand den Krieg erklärt, dann stehen wir zusammen", sagte der Bronzegewinner in Richtung des am anderen Podium-Ende sitzenden Silbergewinners Martin Fourcade aus Frankreich. Der wies den Begriff des "kalten Krieges" zwar zurück: "Den gab's zwischen Russland und den USA", nicht zwischen dem russischen Team und ihm. Aber dass es Streit gibt in der Biathlon-Verwandtschaft, dass die Atmosphäre giftig ist, das Misstrauen zunimmt - das ist nicht zu leugnen.

Auslöser des inzwischen offen ausgetragenen Konflikts ist der sogenannte McLaren-Report, dessen zweiter Teil im Dezember 2016 veröffentlicht worden ist. In der von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) in Auftrag gegebenen Untersuchung über ein staatlich gestütztes Doping-System in Russland werden auch 31 Biathleten der unerlaubten Leistungssteigerung bezichtigt. Die Internationale Biathlon-Union (IBU) prüft einige der Vorwürfe noch, aber die Athleten fordern längst schärfere Konsequenzen im Anti-Doping-Kampf. Martin Fourcade, als fünfmaliger Gesamtweltcup-Gewinner und zehnmaliger Weltmeister das gerade bekannteste Gesicht der Branche, hat sich zum Wortführer der Bewegung aufgeschwungen. In Russland nimmt man ihm das übel.

Es ist ja so, dass die russischen Biathleten, Sportler ebenso wie Funktionäre, keinerlei Einsicht, Schuldgefühle oder Reue zeigen. So weigert sich der russische Verband RBU beispielsweise vehement, die nach Tjumen in Sibirien vergebene WM 2021 freiwillig zurückzugeben. Dieses fehlende Unrechtsbewusstsein stößt vielen Menschen in der Szene sauer auf. Dass die RBU für die WM in Hochfilzen in Alexander Loginow und Irina Starych dann noch zwei Athleten nominierte, deren Strafen wegen Epo-Missbrauchs erst kürzlich abgelaufen sind, wurde als Provokation empfunden. Martin Fourcade wollte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, über die sozialen Medien mahnte er: "Nur weil man jemandem erlaubt, dass er wieder starten darf, darf man nicht vergessen, was er in der Vergangenheit getan hat."

Die Stimmung war also schon vor der WM angespannt, die Situation eskalierte am Donnerstag in Hochfilzen beim Mixed-Wettbewerb. Beim letzten Wechsel war Frankreichs Schlussläufer Fourcade dem bereits austrudelnden Loginow über die Ski gefahren und hatte ihn dabei zu Fall gebracht - mit Absicht, unterstellte Anton Schipulin später, Russlands Schlussläufer. Von einer "ganz normalen Rennsituation", sprach hingegen Ricco Groß, der aus Deutschland stammende Trainer der Russen. Jedenfalls kam es später bei der Flower Ceremony im Stadion zum Eklat: Loginow und Schipulin verweigerten Fourcade den obligatorischen Handschlag, der Franzose verließ kurzzeitig das Podium. Der Disput setzte sich in der Pressekonferenz fort, in einem hitzigen Wortgefecht ging es hin und her zwischen Fourcade und Schipulin, über die Köpfe der in der Mitte sitzenden Deutschen hinweg. Deren Erfolg rückte in den Hintergrund.

Unschuldsvermutung weicht allmählich einem faktisch bestehenden Schuldverdacht

Auch anderntags war keine Deeskalation abzusehen. Beim morgendlichen Training der Männer wäre eine Aussprache zwischen Fourcade und Schipulin möglich gewesen: Die Russen übten an Schießstand 2, die Franzosen daneben an Stand 3. Doch weder Schipulin noch Loginow ließen sich blicken, das Aufeinandertreffen fiel aus. Vielleicht wussten die Russen da ja schon, was die IBU wenig später bekannt gab: Die russische Läuferin Jekaterina Glasyrina wurde unmittelbar vor dem Sprintrennen provisorisch gesperrt. Begründet wurde das mit weitergehenden Untersuchungen des McLaren-Reports; demnach sei eine Arbeitsgruppe des Weltverbandes auf Auffälligkeiten bei Dopingproben der 29-Jährigen gestoßen.

Zur Aufweichung der verhärteten Fronten dürfte die Sperre von Glasyrina nicht beitragen, es ist eine ungute Gemengelage, in der die Titelkämpfe in Tirol stattfinden. Die juristisch geforderte Unschuldsvermutung weicht allmählich einem faktisch bestehenden Schuldverdacht. Zumal ja nun auch die bislang nicht mal durch gute Leistungen aufgefallenen Kasachen ins Visier der Doping-Fahnder geraten sind. In ihrem Teamhotel wurden bei einer Razzia verdächtige Utensilien gefunden. Vom Sport ist kaum noch die Rede, den Slogan mit der Familie findet der deutsche Biathlet Erik Lesser mittlerweile "schon ein bisschen witzig". Nur, dass niemandem zum Lachen zumute ist.

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SZ vom 11.02.2017/tbr
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