WM-Historie (7): 1974:Der Bruderkampf

Das einzige deutsch-deutsche Fußball-Duell endet mit einem Desaster für den Westen. Auf den Rängen wird ein angeblich normales Spiel zum Ersatzkrieg. Eine Reportage vom 24. Juni 1974

Herbert Riehl-Heyse aus dem Jahr 1974

Dies ist die gekürzte Fassung einer Reportage, die am Montag, dem 24. Juni 1974 nach dem Spiel der BR Deutschland gegen die DDR (0:1) auf der Seite drei der Süddeutschen Zeitung erschien. Autor Herbert Riehl-Heyse arbeitete drei Jahrzehnte unter anderem als Chefreporter und leitender Redakteur für die SZ. Er starb am 23. April 2003 mit 62 Jahren.

60 Jahre Deutschland - Fußball-WM 1974: Sparwassers 1:0

Der Moment, an dem Jürgen Sparwasser unsterblich wurde: Der Magdeburger hat 13 Minuten vor Schluss das 1:0 gegen die BRD erzielt. Das einzige Tor in einem deutsch-deutschen Fußball-Duell.

(Foto: dpa)

Am Ende der Veranstaltung war die Teilung der Nation wieder einmal sehr sinnfällig. Oben, im zweiten Stock der Haupttribüne des Hamburger Volksparkstadions, nahm der Sachse Helmut Schön mit tieftraurigem Gesicht auf dem Stuhl Platz, den der siegreiche Thüringer Georg Buschner gerade verlassen hatte, und fand, dass seine Spieler eigentlich alle recht gut gespielt hätten, nur dass eben leider der Gegner gewonnen habe. 200 Treppenstufen weiter unten skandierte eine Gruppe wiederum sächsischer Landsleute lautstark ihre Verwunderung darüber, dass die Mannschaft der DDR tatsächlich so "acht, neun, zehn, Klasse!" gewesen war, wie man das schon die ganze Zeit über vermutet hatte. Oben bekam Staatstrainer Buschner einen tiefempfundenen Händedruck vom Interviewpartner aus der Heimat und bedankte sich über das Fernsehen bei seiner Frau für ihr Verständnis die ganzen Jahre hindurch.

Unten spießte wenig später ein aus dem Rheinischen angereister junger Mann seine schwarz-rot-goldene Mütze auf einem Zaunpfahl des Stadions auf und achtete darauf, dass er den Bundesadler mitten ins Herz traf. Das Unglaubliche war passiert: Die Fußballmannschaft der Bundesrepublik Deutschland hatte gegen die DDR mit 0:1 verloren.

Verständlich war sie schon, die Enttäuschung der einen Hälfte der Nation - und dem Racheakt am unschuldigen Bundesadler ist eine gewisse Symbolkraft nicht abzusprechen. Dabei kann niemand sagen, der bundesdeutsche Sportfan habe in den Jahren davor nicht lernen können, mit Kummer umzugehen. Ob man bei internationalen Anlässen deutsche Männer gegeneinander laufen, deutsche Frauen gegeneinander schwimmen ließ, ob Rodler oder Eisläufer dekoriert wurden - immer häufiger betrachteten die Deutschen-West die Deutschen-Ost neidisch beim Besteigen der Treppchen und erklärten das dem Volk damit, dass drüben eben ganz anders trainiert werde. Umso stolzer war man in der Bundesrepublik auf die absolute Vorherrschaft im Fußball, dem Sport, bei dem mit sozialistischem Drill nichts auszurichten sei. (...)

"Warum wir heute gewinnen", erläuterte Bild mit Hilfe von "Europas größter Sportredaktion" in einer dicken Schlagzeile am Samstag seinen Lesern unter anderem mit dem Nachweis, dass das qualitative Übergewicht bei den einzelnen Spielern mit 7:4 bei den bundesdeutschen liege. Uwe Seeler, das ewige Mittelstürmer-Idol, dessen Prognosen bei dieser WM ebenso gut bezahlt werden wie sie regelmäßig falsch sind, wusste noch nähere Einzelheiten: Die Leser bräuchten keine Angst zu haben, beruhigte er sie, diesmal in der Anzeige einer Schokoladenfirma, weil "wir die weitaus größeren Spielerpersönlichkeiten haben".

Was Wunder, dass bei so viel Zuspruch eine Umfrage der Wickert-Institute am Tag des Spiels ergab, dass nur 17 Prozent der befragten Bundesbürger der DDR einen Sieg gegen die großen Spielerpersönlichkeiten zutrauten - die meisten davon vermutlich auch nur, weil sie glaubten, die Deutschen hülfen einander ein wenig. Ein ehrlicher Sieg der anderen war ja wohl auch gar nicht möglich - vom System her schon nicht. Einige wenige Fachleute, wie Helmut Schön, hatten zwar längst erkannt, dass das Team der DDR heute kaum anders spiele als das der Bundesrepublik ("... sind ja alle Deutsche") und dass gelegentliche Hinweise von drüben auf die Stärke des Kollektivs kaum mehr waren als rhetorische Zugeständnisse an den Parteijargon.

Andere Funktionäre aber, die sich gerne mit Journalisten über die Chancen beim Samstagsspiel unterhielten, erkannten das Grundsätzliche: Wo er bei jeder anderen Mannschaft der Welt Ausgeglichenheit gelobt hätte, da tadelte beispielsweise Schöns Assistent Herbert Widmayer, dass die DDR eben nur auf ein "starkes Kollektiv" Wert lege, nicht auf die Geniestreiche der Einzelspieler.

Jeder, der hören konnte, merkte, dass da wieder einmal der Krieg zwischen zwei Gesellschaftssystemen ausgerufen wurde. Aber der war ohnehin längst im Gange, auf beiden Seiten.

Kontakt nur auf der Toilette

Nicht, dass man das auf den ersten Blick hätte erkennen sollen. Zumindest die Strategen, Trainer, Offiziellen taten einiges, um solche Gedanken nicht aufkommen zu lassen. Wann immer in diesen Tagen vor dem großen "Bruderkampf" die Trainer Schön oder Buschner über den Samstag sprachen, erklärten sie mit aller verfügbaren Inbrunst, es handle sich doch nur um ein Spiel, mit Prestige habe das Ganze schon überhaupt nichts zu tun, und wenn der DDR-Fußballpräsident Riedl bei offiziellen Gelegenheiten das Wort ergriff, dann bestimmt nur, um darauf hinzuweisen, es werde am Samstag lediglich ein Spiel ausgetragen.

Wenn es schon mal politisch wurde in diesen Tagen, dann fast nur in Andeutungen. Helmut Schön etwa freute sich darüber, dass die Politiker so reges Interesse an seiner Mannschaft nahmen ("Wir fühlen uns nicht allein gelassen"), und auch der Pressesprecher des DDR-Teams erzählte von Kontakten mit Politikern der DDR, war aber gleichzeitig pikiert über entsprechende Fragen: "Ihr glaubt wohl, wir kriegen von denen eine Anweisung, wie wir spielen sollen." Kollege Buschner wiederum, der auch in prekären Situationen nie seinen Witz verliert, erzählte jedem, der es wissen wollte, "Herr Schütz von der Berliner Stadtverwaltung" habe ihm vor dem Spiel gegen Chile einen Besuch abgestattet.

Nur manchmal schlug die Terminologie des Ersatzkriegs durch, vor allem bei Pressekonferenzen. Da fürchtete dann Georg Buschner, die BRD werde "auf ihrem Territorium niemandem Offensiven erlauben", oder er hatte seine Probleme, wenn westliche Journalisten wissen wollten, ob die DDR "Spione" zu den Spielen der bundesdeutschen Mannschaft geschickt habe: "Nein", sagte dann der schlaue Buschner und grinste übers ganze Gesicht, diese Seite wolle er doch "lieber Beobachter nennen".

Auf unterer Ebene verlief die Vorbereitung der großen Auseinandersetzung schon weniger subtil. Wenigstens eine Woche lang hatte man Zeit gehabt, sich aufeinander einzuschießen. In Berlin, als die "Zone" im Olympiastadion gegen die Chilenen zu spielen hatte, standen "30.000 wie ein Mann" (Hamburger Morgenpost) hinter den Südamerikanern. In Hamburg, beim Spiel der DDR gegen Australien, konterten aufrechte Hanseaten die Schlachtrufe der Sachsen und Mecklenburger mit dem Sprechchor "acht, neun, zehn, Scheiße" und freuten sich schon darauf, dass es endlich ums Ganze gehen werde. So gesehen war alles bemerkenswert ruhig, als dann am frühen Samstagnachmittag die gegnerischen Fans in geschlossener Formation am Hamburger Bahnhof Dammtor eintrafen. (...)

An diesem Mittag gab es nur die ganz normale deutsch-deutsche Ratlosigkeit, bei den Ankommenden wie bei den Zaungästen. Ein paar Gespräche über das Wetter, eine Handvoll DKP-Leute, die darauf bestanden, heute müsse es aber klappen, ein paar Andersdenkende, die lautstark fanden, hier bewege sich ein Gefangenentransport. Wer versuchte, ins Gespräch zu kommen, erfuhr am Eingang zum Speisesaal des Kongresszentrums, es gebe Rindsrouladen mit Brechbohnen, aber leider keine Möglichkeit für Bundesbürger hineinzukommen. Etwaige Kontaktversuche waren, wie in ähnlichen Fällen schon erprobt, nur auf der Herrentoilette möglich. (...)

Die eigentlichen Kampfhandlungen brachen erst am Abend aus, dafür dann aber umso heftiger. Die 1500 aus der DDR hatten sich auf der Gegentribüne des Stadions versammelt und etwa eine Viertelstunde vor Spielbeginn damit begonnen, alles zu schwenken, was sie an Schwarzrotgoldenem (mit Hammer und Zirkel) so mitgebracht hatten. Das hätten sie nicht tun sollen, nicht auf dem Territorium der Bundesrepublik. Von da an wurde alles Gegnerische gnadenlos ausgepfiffen, die Fähnchen, die Lieder, jede Rückgabe jedes DDR-Verteidigers, auch wenn sie noch so angebracht war. 60 000 Bundesdeutsche fanden immer wieder nur das eine Wort passend: "Deutschland, Deutschland", in höchster Lautstärke, im härtesten Stakkato; ein zum Schlachtruf gewordener Alleinvertretungsanspruch, relativiert freilich dadurch, dass die Fans auf der Gegentribüne jedes Atemholen zwischen den "Deutschland"-Rufen zu einem erstaunlich lauten "D-D-R" benutzten. Minutenlang brüllten sich beide Parteien nur noch an.

Auf der Ehrentribüne saß währenddessen Bundesfinanzminister Apel, der schon vorher gewusst hatte, dies sei "kein normales Länderspiel, sondern ein Beitrag auf dem Wege zum Miteinander". Mit ihm konnten sich jetzt vom Gegenteil überzeugen: der Bundeskanzler, Fraktionsvorsitzende und Parteivorsitzende, die Bevollmächtigten beider Lager und auch Frau Focke, die ja im Kabinett für die Jugend verantwortlich zeichnet. Keiner, der am Schluss nicht einen fachkundigen Kommentar abgegeben hätte (Schmidt: "zu umständlich im Angriff"), keiner aber auch, der die Bemerkung des bisher amtierenden Fifa-Präsidenten Sir Stanley Rous zu verstehen schien, er sei von der Atmosphäre des Spiels "sehr enttäuscht" gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sich Sir Stanley wirklich auf ein normales Fußballspiel eingestellt hatte.

BR Deutschland - DDR 0:1 (0:0)

Hamburg, 22. Juni 1974

BR Deutschland: Maier, Vogts, Schwarzenbeck (68. Höttges), Beckenbauer, Breitner, Cullmann, Overath (69. Netzer), Hoeneß, Grabowski, Müller, Flohe.

DDR: Croy, Kische, Bransch, Weise, Wätzlich, Irmscher (65. Hamann), Lauck, Kreische, Kurbjuweit, Sparwasser, Hoffmann.

Tor: 0:1 Sparwasser (77.) Zuschauer: 60 200 Schiedsrichter: Barreto Ruíz (Uruguay)

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