Süddeutsche Zeitung

WM-Historie (3): 1938:Großdeutsches Versagen

Nach dem "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich muss Herberger aus zwei Teams eines formen. Schnörkellosigkeit trifft auf Scheiberl-Fußball - es gibt ein Debakel.

Michael Gernandt

Welch eine absurde Situation: Das erste WM-Debakel in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft hatte seinen Ursprung - auf dem Heldenplatz in Wien! Dort hatten sich am 15. März 1938 250.000 Menschen eingefunden, um einem Mann zuzujubeln, der sie verhext zu haben schien, im offenen Mercedes stehend vorgefahren war, begleitet vom Glockengeläut der Kirchen, die Kardinal Innitzer mit dem Hakenkreuztuch hatte drapieren lassen, und nun von einem Balkon der Hofburg herab verkündete: " ... kann ich vor der Geschichte den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich melden".

Da rastete das Volk vollends aus, wie "narrisch" jauchzte die Masse jetzt, als sei der Allmächtige über sie gekommen und habe ihr das Himmelreich auf Erden versprochen. Dass er sie dereinst in den Abgrund führen würde, weil er ein Teufel war, wussten die tobenden Wiener noch nicht - noch war ihr Landsmann Adolf Hitler für die große Mehrheit nicht durchschaubar.

Wohl aber die Sportpolitik der NS-Diktatur für die bis dato rotweißroten Fußballer. Die ahnten, welche Folgen der von den Nazis drei Tage zuvor vollzogene und bei der Grenzüberschreitung der Wehrmacht widerstandslos hingenommene "Anschluss" ihres Landes an das zum "großdeutschen Reich" aufgemotzte Deutschland für die Besten am Ball zeitigen könnte: Die Rede ist von ihrer Gleichschaltung, so der Jargon der NS-Gewaltigen, mit den Kickern des "Altreichs".

Wie Feuer und Wasser

Nur die Vorstellung, wie die Verschmelzung zweier Spielsysteme mit in etwa so divergierenden Aggregatzuständen wie Feuer und Wasser tatsächlich funktionieren sollte, die besaßen die nun zum NS-Gau XVII "Ostmark" gehörigen Spieler nicht. Kaum hatten Deutsche und Österreicher, von SA-Horden in die Wahllokale gedrängt, am 10. April den Anschluss mit 99 Prozent Zustimmung "legitimiert", erging nämlich an den nach zweijährigem Grabenkampf mit seinem Vorgesetzten Otto Nerz zum Cheftrainer aufgestiegenen Sepp Her­berger die folgende Order: Zur Weltmeisterschaft im Juni in Paris hat die Nationalmannschaft des "großdeutschen Reichs" mit Altreichlern und Ostmärkern anzutreten.

Woher die Verfügung stammte, ist bis heute nicht völlig geklärt. Die naheliegendste Version: Sie kam aus der Behörde des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten, eines stets braungebrannten Adelsmannes mit Silberhaar. Seine NS-Gesinnung war stramm und sonst gar nichts. Eine Nähe zum Sport konnte ihm anfangs nicht nachgewiesen werden. Gleichwohl erkannte sein Amt schnell, wie hilfreich für die "Bewegung" eine Ideologisierung des Lieblingssports der Deutschen und Österreicher sein konnte. Andererseits: Die Zubereitung der "Wiener Melange mit preußischem Einschlag" (Herberger) kann auch vorauseilendem Gehorsam des von den Nazis begeisterten Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübung (DRL) entsprungen sein.

6:5 oder 5:6

ereits Ende März hatte sich Österreichs Fußballbund beim Weltverband Fifa abgemeldet. Und eine Woche vor dem 99-Prozent-Referendum war es im Wiener Praterstadion zum so genannten Verbrüderungsspiel zwischen den Auswahlteams von Österreich und Deutschland gekommen (die, wie es hieß, ins Reich Heimgeholten siegten 2:0). Das Fachblatt Kicker legte die Partie dem Führer quasi zu Füßen mit dem Satz: Die Partie sei "das Glaubensbekenntnis der Fußballer im großdeutschen Reich".

Gesichert ist dagegen die Maßgabe an Herberger, die WM-Mannschaft im Verhältnis 6:5 oder 5:6 zu mischen. Fachamtsleiter Felix Linnemann - heute würde man DFB-Präsident sagen - verwies auf "höhere Weisung". Und: "Der Reichsführer wünscht das so." Schließlich schwadronierte Linnemann: "Die Geschichte erwartet das von uns."

Bevor der Weg zur Pariser WM-Pleite hier weiter verfolgt werden soll, lohnt noch ein Rückgriff auf die Jahre 1936 und 1937. Denn schon einmal waren Funktionäre dem verantwortlichen Trainer der Reichsauswahl bei seinen Überlegungen zur Mannschaftsaufstellung gehörig in die Parade gefahren. Olympische Spiele 1936 in Berlin. Die Partei und das von Goebbels' Propagandaministe­rium aufgeputschte Volk gierten nach Medaillen und Siegen für das neue Deutschland.

Dass der Fußball seinen Beitrag leisten würde - eine Selbstverständlichkeit. Zumal die Chancen gut standen, fehlten doch die Profis aus England, Spanien, Österreich, Italien und Ungarn. Hitler-Deutschland indes kannte nur Amateure reinsten Wassers (der eigentlich angebrachte Begriff des Staatsamateurs, der Scheinberufen nachging, kam erst in den fünfziger Jahren auf).

Nachwuchs statt Elite

Professor Otto Nerz leitete die Mannschaft an, hatte aber die Rechnung für die ersten zwei Turnierspiele ohne die Funktionäre um Felix Linnemann gemacht. Gegen Luxemburg und Norwegen, erfuhr der Chefcoach, sei der Nachwuchs einzusetzen und die Elite für die wirklich schweren Partien zu ­schonen. Wie es ausgegangen ist, verrät die olympische Chronik: Beim 9:0 gegen den Zwerg Luxemburg griff Linnemanns Erlass noch, nicht aber gegen Norwegen. Die Skandinavier siegten 2:0 und eliminierten die Deutschen, bevor es um die Medaillenränge ging.

Peinlich, peinlich. Ehrengast Adolf Hitler, erstmals bei einem Fußballmatch zugegen, verließ das Poststadion vorzeitig. Jahrelang erzählte man sich in Fußballkreisen, Adolf Nazi habe nach der Katastrophe gegen Norwegen nie wieder ein Spiel besucht. Mit diesem Gerücht räumte erst Ende der neunziger Jahre der ehemalige Schalker Nationalspieler Herbert Burdenski auf. Im Buch "Stürmer für Hitler" bestätigte er Autor Gerhard Fischer Hitlers Anwesenheit beim Meisterschaftsfinale 1937 zwischen Schalke 04 und dem 1. FC Nürnberg.

Dass sich die Ereignisse von Berlin mit dem beschämenden Ausgang für den NS-hörigen Fußballbund zwei Jahre später wiederholen würden, war nicht vorauszusehen. Auch 1937 nicht. Besser: gerade 1937 nicht. Denn im Jahr vor der WM, im schönen Mai, geschah bei einem Länderspiel gegen Dänemark in Breslau Sonderbares: die Geburt einer Nationalmannschaft, deren Spiel die ­Nation zu verzaubern schien. "So ­locker, so frei von allen Hemmungen", schwärmte der Kicker vom 8:0-Sieg der von Otto Nerz vorgeschlagenen, aber von Trainerpartner Sepp Herberger auf drei Positionen modifizierten Elf.

14 Tage zuvor hatten die Edel-Nerze gegen die Schweiz 1:0 mit folgender Formation gewonnen: Jakob (Jahn Regensburg) - Billmann (1. FC Nürnberg), Münzenberg (Alemannia Aachen) - Kupfer (Schweinfurt 05), Goldbrunner (Bayern München), Kitzinger (Schweinfurt 05) - Lehner (Schwaben Augsburg), Szepan (Schalke 04), Eckert (Wormatia Worms), Noack (Hamburger SV), Urban (Schalke 04).

Der Hallodri schießt fünf Tore

Sepp Herberger, den man immer noch nicht über die Hierarchie im Trainerstab aufgeklärt hatte - der angedeutete Rücktritt von Nerz wurde erst im März 1938 vollzogen -, ließ indes den Düsseldorfer Verteidiger Janes für Billmann auflaufen, den Schalker Halbrechten Gellesch für Noack und den Waldhöfer Mittelstürmer Siffling für Eckert. Den als Hallodri verschrienen Otto Siffling zwischen Gellesch und Spielmacher Szepan eingebaut zu haben, wurde Herberger als genialer Schachzug ausgelegt. Siffling erzielte fünf der acht Tore.

Kapitän Fritz Szepan bezeichnete die Leistung als "den Durchbruch zur Weltklasse". Helmut Schön aus Dresden, der im November 1937 sein Teamdebüt gegen Schweden gab und 1964 Herberger als Bundestrainer ablöste, hat das "Wunder von Breslau" später so begründet: "Die Breslau-Elf spielte das moderne englische WM-System mit Stopper. Sehr schnell, oft direkt, es war immer Bewegung da, das Spiel wurde über die Flügel aufgerissen. Überragende Solisten sorgten immer wieder für Überraschungen. Zum ersten Mal zeichnete sich damals ein Stil ab, den man bis heute als 'deutschen Stil' bezeichnen kann."

Jürgen Leinemann, Redakteur beim Magazin Der Spiegel und Autor der Herberger-Biografie "Ein Leben, eine Legende", in der er exklusiv den Nachlass des großen Meisters auswerten durfte, schreibt: "Wenn Herberger (...) über die Entwicklung und Entstehung der Breslau-Elf erzählte, dann konnte man leicht glauben, dass er über seine Weltmeister von 1954 redete." Ein Zufall sei das wohl nicht gewesen. "Mochten sich auch manche Dinge aus jüngerer Zeit verklärend vor die Erinnerung an die dreißiger Jahre schieben, oder umgekehrt, die Ähnlichkeiten beider Teams waren real. Wie die Breslau-Elf war auch die Weltmeistermannschaft von 1954 langsam gewachsen und nicht über Nacht entstanden."

Tatsächlich hatten schon sechs "Breslauer" die Olympia-Schmach erdulden müssen: Hans Jakob, Reinhold Münzenberg, Ludwig Goldbrunner, Ernst Lehner, Otto Siffling und Adolf Urban. Und war Fritz Walter nicht das Alter Ego von Fritz Szepan, wenigstens auf dem Platz, als Dirigent?

Zeitsprung. Hinein ins Jahr 1938, ein schreckliches Jahr, wie die Geschichte gelehrt hat. Der "Anschluss", das Münchner Abkommen, der Einmarsch ins Sudetenland, die Pogromnacht - Vorboten einer Weltkatastrophe, Stationen des "Dritten Reichs" und Deutschlands auf dem blutigen Weg ins Verderben. Was war dagegen die Blamage der Fußballer bei der WM in Frankreich, ihr Scheitern gegen die Schweiz bereits in Runde eins? Nicht einmal eine Momentaufnahme des Weltenlaufs. Aber doch ein Nadelstich für die Bonzen von der NSDAP, die damals noch verblendet von der Weltherrschaft träumten - auch von der im Fußball.

Eins und eins ist nicht zwei

Wir erinnern uns: Hitlers machtbesoffene Funktionäre hatten die Verschmelzung der sagenhaften Breslau-Elf von 1937 (zehn Siege in elf Spielen, keine Niederlage) mit den Nachfahren des österreichischen "Wunderteams" aus den frühen dreißiger Jahren dekretiert. Ihre Rechnung jedoch war so einfach, wie sie falsch war, sie lautete eins und eins ist zwei und darf als Teilbeleg dafür gewertet werden, dass deutsche Funktionäre aus der Geschichte nicht zu lernen vermögen.

Denn 52 Jahre später fehlkalkulierten sie noch einmal, als sie versuchten, die Naht zwischen den Fußballsystemen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit heißer Nadel zusammenzuziehen. Gerade Weltmeister geworden mit seinem BRD-Team, hieß Franz Beckenbauer die hervorragend ausgebildeten DDR-Kicker willkommen im Balltreterparadies, um sich anschließend an der kühnen Prognose zu verheben, die wiedervereinigten deutschen Ballathleten seien fortan auf Jahre hinaus unbesiegbar.

Einem solchen Irrtum war Sepp Herberger, im Gegensatz zu seinen Vorgesetzten, nicht erlegen. Vielmehr witterte der intime Kenner der deutsch-österreichischen Verhält­nisse im Fußball Ungemach. Er spürte die Unlösbarkeit des Verschmelzungsprozesses innerhalb von sechs Wochen, nicht mehr und nicht weniger. Er wusste genau, dass jedes Team für sich in Paris erfolgreicher abschneiden würde als das zwangsvereinte (die Qualifikation hatten beide noch getrennt absolviert, durch die Auflösung des Austria-Verbands gelangte Schweden kampflos ins Viertelfinale).

Kraft-durch-Tritte-Fußball

Dafür gab es zwei Gründe: die Unvereinbarkeit der Spielsysteme und atmosphärische Störungen innerhalb des Kaders.

Die Systeme: Die Deutschen bevorzugten das von der Breslau-Elf verfeinerte WM-System, sie setzten auf Kondition, Athletik, Tempo und Schnörkellosigkeit; die Österreicher blieben beim offensiven Mittel­läufer, waren als Techniker der Marke genial-schlampig bekannt. Ihr Spiel: langsam und pomadig. Von "Scheiberl-Fußball" sprach Herberger. Und: "Die können nicht kämpfen." Hans Pesser, Linksaußen von Rapid ­Wien, konterte: "Die Deutschen spielen streng nach Heeresordnung Kraft-durch-Tritte-Fußball (in Anlehnung an die NS-Organisation Kraft-durch-Freude/Anm. d. Aut.)."

Die Atmosphäre: Jürgen Leinemann spricht in seinem Buch von "feindseligen, misstrauischen, ja hasserfüllten Lagern und einer Art fußballerischer Erbfeindschaft". Obwohl Herberger seine damals schon gut ausgeprägten psychologischen Talente aktivierte, schaffte er es nicht, Ruhe in den Laden zu bringen.

Für das einzige Test-Länderspiel vor der Weltmeisterschaft gegen Eng­land in Berlin bot er daher sicherheitshalber nur einen Wiener auf, den Rapidler Hans Pesser. Half aber auch nichts: 6:3 für die Engländer. Altes Fußballerlatein besagt, die von der Insel hätten deshalb so überragend gespielt, weil sie ihr Botschafter in Deutschland gezwungen hatte, vor dem Anpfiff den Hitlergruß zu entbieten.

Schließlich die Weltmeisterschaft in Paris, Achtelfinale gegen die Schweiz. Herberger ließ mit sechs aus dem Altreich spielen (Janes, Kupfer, Kitzinger, Lehner, Gellesch, Gauchel; also ohne Szepan) und mit fünf aus der Ostmark: Raftl (Tor), Schmaus, Mock, Hahnemann, Pesser. Nichts ging zusammen, aber beim 1:1 nach Verlängerung auch nichts verloren - außer der wegen eines Revanchefouls vom Platz gestellte Hans Pesser.

Grottenschlechte Großdeutsche

Als er ging, bespuckten ihn sich wild gebärdende Zuschauer aus der Schweiz und Frankreich, eine Reak­tion auf die sich abzeichnende Hitlersche Aggressionspolitik. Aber Chauvinismus sei das Verhalten der Anhängerschaft des Gastgebers und des Gegners nicht gewesen, befand der Beobachter der Neuen Züricher Zeitung. "Es handelte sich vielmehr um das Abreagieren eines psychologischen Komplexes, der seit dem Anschluss Österreichs auf den Gemütern der Franzosen lastete, nämlich der einer unwiderstehlichen Überlegenheit der deutschen Dynamik auf allen Gebieten des kräftemäßigen Einsatzes."

Da 1938 im K.o.-System gespielt wurde und das Elfmeterschießen noch nicht erfunden war, kam es fünf Tage später zur Wiederholung. Wieder die 6:5-Mischung zugunsten der Altdeutschen, aber Änderungen auf sechs Positionen. Gebracht hat es nichts, im Gegenteil: grottenschlechte Großdeutsche, eine über sich hinauswachsende, wie zum Rütli-Schwur versammelte und von außen feurig-fanatisch unterstützte Schweizer Mannschaft. Wie schon im ersten Achtelfinalspiel. "Glauben Sie mir, es war eine furchtbare Schlacht, es war kein Spiel mehr", sagte Herberger laut Jürgen Leinemann. 4:2, die Eidgenossen stiegen ins Viertelfinale auf, wo sie dem späteren Finalisten Ungarn mit 0:2 unterlagen.

Und die Deutschen? Suchten nach Schuldigen und fanden - na klar, die Spieler aus Gau XVII. "Die müssen noch viel lernen", moserte der immer noch allgegenwärtige Otto Nerz, "die resignieren lieber, als um den Sieg zu kämpfen." Die wie der Sport gleichgeschaltete deutsche Presse hingegen schoss sich auf das Publikum ein. Hitlers Parteizeitung Völkischer Beobachter überlegte: "Wir können vielleicht ganz froh sein, dass wir ausgeschieden sind", denn beim "Kampf Mann gegen Mann tun sich Abgründe auf".

Wie wahr - 14 Monate später begann der Zweite Weltkrieg.

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SZ-WM-Bibliothek, Band 1930-1950
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