WM-Gold für Christina Obergföll:Befreit vom ewigen Makel

Obergfoll of Germany celebrates with her national flag after winning the women's javelin throw final during the IAAF World Athletics Championships at the Luzhniki stadium in Moscow

Geschafft: Christina Obergföll bejubelt ihren Erfolg.

(Foto: REUTERS)

Lange galt Speerwerferin Christina Obergföll als eine, die ihre Gold-Chancen nicht zu nutzen vermag. Jetzt ist sie endlich Weltmeisterin. Ihr Erfolg ist der perfekte Abschluss einer WM, die der Deutsche Leichtathletik-Verband als Erfolg verbuchen kann.

Von Thomas Hahn, Moskau

Die letzten Würfe, die letzten Chancen der anderen. Christina Obergföll stand neben dem Anlauf der Speerwurfanlage mit ihrer Führung, die sie sich in diesem Finale der Leichtathletik-WM in Moskau durch einen zweiten Versuch mit 69,05 Metern erarbeitet hatte, und wartete ab, was passierte. Sie weiß, wie das ist, verdrängt zu werden, sie hat es schon oft erlebt.

Ihre goldenen Aussichten hatte sie bei den großen Ereignissen bisher noch nie durchgebracht. Christina Obergföll wartete also. Maria Abakumowa aus Russland stand am Anlauf, die Titelverteidigerin. Die Menge im Luschniki-Stadion lebte auf. Abakumowa lief an, die Menge wurde immer lauter, Abakumowa warf, ihr Speer flog. Aber er senkte sich früh, und der Lärm im weiten Rund brach ab.

Kimberley Mickle blieb übrig als letzte Gefahr, die zweitplatzierte aus Australien, die vor dem Wettkampf nicht mit Silber hatte rechnen können. Sie war schon glücklich genug, aus diesem Glück heraus warf sie noch mal weit. Die Menge raunte. 66,60 Meter, persönlicher Rekord- aber es reichte nicht für Obergföll, die lange verhinderte Weltmeisterin aus Offenburg.

Das Gold der Obergföll ist der perfekte Abschluss gewesen zu einer nacholympischen WM, die der Deutsche Leichtathletik-Verband guten Gewissens als Erfolg verbuchen konnte. Sportdirektor Thomas Kurschilgen und Cheftrainer Idriss Gonschinska zählen nicht so gerne Medaillen, aber natürlich tun sie es doch. Sie zählen noch viel mehr. Sie zählen vierte Plätze, Plätze unter den ersten acht, Plätze unter den ersten zwölf, Bestleistungen, Saisonbestleistungen usw. Und was auch immer sie zählten in Moskau - es deutete für sie darauf hin, dass der Kurs Richtung Zukunft stimmte.

Rund 80 Prozent der DLV-Athleten bestätigten oder verbesserten ihr Niveau, rechnete Kurschilgen vor. In die Medaillenbilanz gingen viermal Gold, zweimal Silber, einmal Bronze ein (5.). Am letzten Tag ereigneten sich neben dem Obergföll-Sieg als weitere Positiv-Werte vierte Plätze für die Speerwerferin Linda Stahl und die Männer-Sprintstaffel (38,04 Sekunden) sowie fünfte Plätze für den kürzlich eingebürgerten Homiyu Tesfaye aus Äthiopien (1500 Meter) und die Frauen-Sprintstaffel (42,90).

Da war offensichtlich nicht viel schief gelaufen in der Vorbereitung, Kurschilgen erkannte auf "eine gute Ausgangslage auf dem Weg zu den Olympischen Spielen in Rio 2016".

"Ich bin sprachlos und bewegt"

Erneuerung des Nationalteams und weniger Stress für die Elite nach Olympia - das waren die Grundpfeiler der 2013-Strategie im DLV. Mit Christina Obergföll hatte das wenig zu tun. Sie wird diese Woche 32, ist seit Jahren eine Bank im Kader, und dass sie das nacholympische Jahr mit weniger Elan anging, war nicht zu erkennen. Ihr Kollege David Storl, 23, vom Kugelstoßen, der am Freitag seinen Titel mit 21,73 Metern verteidigt hatte, passte da schon eher zur Schonhaltung des DLV.

Storl ließ die Hallensaison aus, hatte Rückenprobleme und eine Haut-Operation, später auch eine Muskelverletzung und war eher selten bei Wettkämpfen unterwegs. Geduld war gefragt, und dass Storl sich diese Geduld als bezahlter Sportpolizist leisten konnte, sah Storls Trainer Sven Lang als großen Vorteil gegenüber dem geschlagenen Weltjahresbesten Ryan Whiting, der im freieren Sportsystem der USA abhängig von Antrittsgagen und Prämien ist. "Wir haben eine größere Sicherheit. Wir können auch mal auf einen Wettkampf verzichten", sagt Lang.

Christina Obergföll könnte das bestimmt auch. Aber sie will raus in die Arenen. Und in diesem Jahr, in dem die zweimalige Olympiasiegerin Barbora Spotakova aus Tschechien eine Babypause einlegt, war das besonders lukrativ. Christina Obergföll beherrschte die Szene zuletzt. Die einzige Niederlage der Saison kassierte sie zwei Tage nach ihrem Diamond-League-Sieg in Paris: bei den deutschen Meisterschaften in Ulm gegen Linda Stahl.

Die Voraussetzungen auf ihr erstes großes Gold schienen so gut wie selten zu sein. Christina Obergföll wusste es. Aber sie wusste auch, dass sie schon oft Gold-Chancen hatte, die so gut wie selten waren, und traute dem Frieden nicht. Sie hat als Favoritin schon ein paar herbe Niederlagen einstecken müssen nach ihrem überraschenden WM-Silber-Gewinn 2005 in Helsinki. Bei der WM 2009 in Berlin zum Beispiel, als plötzlich die Leverkusener Konkurrentin Steffi Nerius zu Gold kam und Obergföll auf Rang fünf zurückrutschte. Sie sagt: "Es gab Momente , in denen ich überlegt habe meine Karriere zu beenden."

Christina Obergföll hat auch schon viel gewonnen, 2008 bei Olympia in Peking zum Beispiel die einzige Bronzemedaille des DLV, 2012 Olympia-Silber. Aber ein bisschen lag selbst über ihren Erfolgen immer der kleine Makel, dass ein Wunsch unerfüllt geblieben war. Und jetzt? Als sie zu ihrem letzten Versuch schritt, war sie schon Weltmeisterin. Weinte sie? Sie konnte jedenfalls nicht mehr richtig werfen. Der Speer flog irgendwo ins Halbfeld.

Christina Obergföll ging in die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. "Ich bin sprachlos und bewegt", sagte sie später. "Das kommt in einem Moment, in dem ich schon gar nicht mehr damit gerechnet habe."

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