WM 2010:Frankreich versinkt im Chaos

In der französischen Nationalelf reiht sich ein Eklat an den nächsten. Das Team verteidigt seinen suspendierten Mitspieler Anelka und verweigert das Training, der Manager tritt zurück - und selbst Staatspräsident Sarkozy mischt sich ein.

Allein die Lebensläufe mancher Menschen liefern Hinweise auf ihren Charakter. Die Vita von Nicolas Anelka, 31, legt den Verdacht nahe, dass es sich um einen schwierigen, streitbaren Sportler handelt. In 13 Jahren hat der Stürmer für acht Vereine in vier Ländern gespielt, mal mit mehr, oft mit weniger Erfolg, trotz großer Befähigung: eine Achterbahnkarriere. 135 Millionen Euro Ablösegebühren sollen sich für Anelkas Transfers angehäuft haben, und schon früher wurden schräge Episoden erzählt.

Nun hat Anelka den ersten WM-Eklat angezettelt, und ebenso wenig überraschte, dass sich der Vorfall in einer fußballerisch wie atmosphärisch maroden Mannschaft ereignet hat: "Frankreich schickt Stürmer nach Hause. WM-Aus für Anelka!", titelten die Nachrichtenagenturen, unterlegt mit derselben Signalfarbe wie für Tsunamis oder verstorbene Staatsoberhäupter: knallrot, "Priorität 1".

Errötet sein soll auch mancher TV-Ansager, als er jene Zeile zitieren sollte, mit der das Pariser Sportblatt L'Équipe den Skandal ausgelöst hatte. Es lief die Halbzeitpause bei Frankreichs 0:2 am vorigen Donnerstag gegen Mexiko, als Trainer Raymond Domenech den erkennbar uninspirierten Anelka "bestimmt und genervt, aber in höflicher Form", wie es hieß, zu mehr Laufbereitschaft aufgefordert hatte. Der Gerügte, so der Bericht, konterte bestimmt und genervt und in mäßig höflicher Form, man verzeihe die Wiedergabe: "Fick dich in..., du Hurensohn". Oder so ähnlich.

Anelka dementiert

Oder nicht? "Das waren nicht meine Worte", dementierte Anelka (France Soir), bevor er am Sonntag die Teamunterkunft in Knysna verlassen musste. Dass die Story aber kein Science-Fiction-Beitrag war, sondern im Kern so stattgefunden hatte, das gestand sogar der Sünder. Anelka erinnerte sich an eine "lebhafte Unterredung" von zwei sehr speziellen Sportsfreunden: ein Stürmer, dem seit Jahren der Ruf eines schnöseligen enfant terrible anhängt.

Und ein Trainer, der als kauzig und stur gilt und die seltene Gabe zu haben scheint, es sich mit den meisten Topspielern seines Kaders zu verscherzen. Der Vorfall fügt sich, unabhängig vom Wortlaut, in die Gemengelage bei den Franzosen, deren Südafrika-Reise die Züge eines Gespensterumzugs entwickelt. Das wurde endgültig offenbar am Sonntagnachmittag, als das Team die Teilnahme am öffentlichen Training in Knysna verweigerte. Der Verbandsoffizielle Jean-Louis Valentin erklärte daraufhin seinen Rücktritt.

Domenech verliest Erklärung

Zuvor war es zu einem heftigen Disput zwischen Kapitän Patrice Evra und Fitness-Coach Robert Duverne gekommen, den Cheftrainer Raymond Domenech schlichten musste. Duverne warf seine Stoppuhr zu Boden und ging verärgert davon. "Ganz ehrlich, ich verlasse Südafrika und fliege heim nach Paris", sagte Valentin nach dem Zwischenfall zu Journalisten im WM-Quartier in Knysna. Und fügte sichtlich erschüttert hinzu: "Ich bin empört und angewidert, ich gebe meinen Job hier auf. Was hier passiert, ist ein Skandal für den Verband, für die französische Mannschaft und für das gesamte Land. Die wollen nicht trainieren. Das ist inakzeptabel".

Domenech verlas danach vor der Presse eine Erklärung der Spieler, in der sich diese ausnahmslos gegen den Rauswurf Anelkas stellten und dem Verband FFF schwere Vorwürfe machten. "Alle Spieler der Mannschaft von Frankreich wollen ohne Ausnahme ihre Opposition gegen den vom Französischen Fußball-Verband beschlossenen Ausschluss von Nicolas Anelka bekanntgeben".

Selbst Staatspräsident Sarkozy äußerte auf einer Dienstreise in St. Petersburg, Anelkas Entgleisung sei "inakzeptabel". Die Affäre berührt auch Felder jenseits des Fußballs: In Frankreich gehen manche so weit, das Bild der Equipe analog zum Zustand der Gesellschaft zu sehen.

Die Tränen des Kapitäns

Der nationale Verband FFF rechtfertigte Anelkas Suspendierung zunächst in Schriftform: "Die Worte gegen Raymond Domenech sind völlig inakzeptabel für den FFF, den französischen Fußball und die Werte, die er verteidigt." An einer Pressekonferenz in Knysna nahm dann FFF-Präsident Jean-Pierre Escalettes teil, überliefert wurde Diffuses. Die Aufforderung, sich öffentlich zu entschuldigen, soll Anelka abgelehnt haben. Dennoch wurde Esacelettes so zitiert, dass sich Anelka nach Bekanntgabe des Strafmaßes "würdevoll verhalten" habe.

Verglichen mit Anelkas obszönen Worten waren frühere Fälle aus der WM-Geschichte Petitessen, etwa der "Suppenkasper", zu dem der deutsche Ersatztorwart Stein 1986 die Trainereminenz Beckenbauer herabwürdigte. Er reiste ebenso heim wie Stefan Effenberg 1994 nach seiner Mittelfingergeste - jüngster Nachahmungstäter soll im übrigen Anelkas Kollege Gallas gewesen sein, ebenfalls beim 0:2 gegen Mexiko, er grüßte so einen TV-Reporter.

Ein Team außer Rand und Band, das nur noch ein "Wunder" (Domenech) vor dem Vorrunden-Aus bewahren würde. Kapitän Patrice Evra ging, statt den Missetäter zu rügen, auf Maulwurfsjagd: "Das Problem ist nicht Anelka, es ist der Verräter, der den Medien die Sache enthüllt hat. Ihn muss man ausschließen." Ähnlich äußerte sich Franck Ribéry: "Jemand hat Sachen aus der Kabine ausgeplaudert, wir werden erst erleichtert sein, wenn wir wissen, wer es war."

"Jetzt legt noch einer nach"

Berichte über Mobbing zwischen Clans des Teams, etwa gegen den jungen Mittelfeldregisseur Gourcuff, wies Ribéry zurück. Der Dribbler vom FC Bayern verhehlte aber nicht, bei Anelkas Abreise "Tränen in den Augen" gehabt zu haben. Evra schilderte das Ausmaß der Schäden: "Wir stehen schon mitten im Debakel - und jetzt legt noch einer nach." Die Bekanntgabe von Domenechs Ablösung nach der WM (Nachfolger: Laurent Blanc), mit vorhersehbaren Folgen, war nur einer von vielen Mosaiksteinen.

Anelka soll über Domenech einst gestaunt haben, "welche komische Menschen man in Frankreich zum Nationaltrainer macht". Es war jedoch Domenech, der den in England (seit 2008: FC Chelsea) wiedererstarkten Stürmer zurückgeholt hatte in die Equipe. Einst als schneller, durchsetzungsfähiger Jungstürmer vom FC Arsenal im grauen Pariser Vorort Trappes entdeckt und 1998 gefeierter Debütant im Nationalteam, hinterließ Anelka gleich beim ersten Großverein, Real Madrid, das Bild einer labilen, zuweilen kindischen Diva - mit Bruder Didier als Privatmanager an seiner Seite. Für Real war Anelka ein teurer Irrtum, er selbst brauchte danach lange, um wieder auf hohem Niveau Fuß zu fassen. Richtig schlau aus Anelkas Fähigkeiten und seinem Phlegma wird die Fachwelt bis heute nicht.

Größter Heiterkeitserfolg war bislang Anelkas Flucht aus Madrid, im Jahre 2000. Er verließ die Stadt zum Schutz vor Reportern im Kofferraum eines Autos. Aus Südafrika soll Anelka mit dem Flugzeug abgereist sein.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: