WM 2010: Frankreich:Der Blues der Blauen

"Ein vernichtendes und trostloses Bild von Frankreich": Die Grande Nation leidet an den skandalösen Vorgängen rund um den Rauswurf Nicolas Anelkas und erkennt sich im Niedergang ihrer Nationalelf wieder.

Stefan Ulrich

Die französische Sportministerin Roselyne Bachelot wirkt wie ein General, der sich seinen desertierenden Truppen entgegen wirft. Nach zwei deprimierenden Weltmeisterschaftsspielen der Nationalelf und einem vulgären Verbal-Foul des Stürmerstars Nicolas Anelka gegen den eigenen Trainer behauptet die Ministerin, in der Partie am Dienstag gegen Südafrika könne sich noch alles zum Guten wenden. Die Spieler ermutigt sie mit den Worten: "Die Menschen, die den Fußball lieben, stehen hinter euch."

Raymond Domenech

Frankreichs Nationaltrainer Raymond Domenech verliest eine Mitteilung seiner Spieler, die aus Protest gegen die Demission von Nicolas Anelka das Training verweigerten.

(Foto: ap)

Von wegen. Selten in der Geschichte wurde eine Nationalelf im eigenen Land so verachtet, ja gehasst wie derzeit Les Bleus. Von einem "blauen Albtraum" schreiben die Kommentatoren. Die Zeitung Le Parisien findet, diese Mannschaft vermittle der Welt "ein vernichtendes und trostloses Bild von Frankreich". Sie sei schon kein Ruinenfeld mehr, sondern "eine Art Nichts".

Die französischen Bürger sind angewidert von dem Spektakel, das der noch amtierende Vize-Weltmeister bietet. Etwa 62 000 Menschen beteiligten sich bis zum Sonntag an einer Online-Umfrage des Figaro. Mehr als 80 Prozent von ihnen wünschten, ihre Nationalmannschaft möge sofort aus dem Turnier fliegen. Schon fragen sich die Psychologen, was es bedeutet, wenn Frankreich seinem Team die Rote Karte zeigt. Die Fans wüteten auch deshalb, um zu vertuschen, wie sehr sie sich schämten, meint der Psychoanalytiker Serge Tisseron.

Ein Sinnbild des Landes?

Selbst die Politiker empören sich über die Blauen, von den Grünen bis zu den Rechtsradikalen. Präsident Nicolas Sarkozy musste am Wochenende bei einem Besuch in Russland zum Tohuwabohu in der Nationalelf Stellung nehmen. Die Sache wird zur Staatsaffäre. Ein Grund der übergroßen Erregung: Vielen Franzosen schwant, dass hier mehr als nur der Niedergang einer einst ruhmreichen Nationalelf zu besichtigen ist. Womöglich ist sie ja ein Sinnbild des Landes.

"Eine Mannschaft spiegelt eine Epoche wider", findet der frühere Chef der Sozialisten, François Hollande. Diese Équipe Tricolore verkörpere den Egoismus und Individualismus, die Geldgier und "die Auflösung der Brüderlichkeit, ja des Nationalgefühls". Zugleich erlebe Frankreich gerade die Auflehnung gegen einen Chef, der als selbstverliebt, starrsinnig und ungerecht empfunden werde. Was Hollande damit sagen will: Das zerstrittene, in Clans zerfallende WM-Team steht für Frankreich - und der ungeliebte Trainer Raymond Domenech für Präsident Sarkozy.

Merkel schilt, Beckenbauer geißelt

Gewiss, Hollande ist Parteipolitiker, doch einer von den klügsten. Er merkt, wie sein Land leidet, weil es unter seinen Möglichkeiten spielt. Haushaltsdefizit, Arbeitslosigkeit, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit - auf vielen Feldern fühlen sich die Franzosen im Rückstand. Zugleich verteidigen Bürger und Politiker ihre Privilegien und verlieren "la nation une et indivisible", die eine und unteilbare Nation, aus dem Auge. Sie würden sich am liebsten vor der internationalen Konkurrenz und Kritik abschotten. Und sie werden vom großen Nachbarn getadelt. Genauso wie die Nationalelf.

Während Angela Merkel die Leistungen Frankreichs in der Haushaltsführung schilt, geißelt Franz Beckenbauer das Spiel der Bleus. Das schmerzt - und es spricht für die französischen Medien, jetzt nicht nationalistisch dagegenzuhalten. Im Spiel gegen Südafrika könnten die Blauen noch selbst eine Antwort geben und ihre Fans gnädiger stimmen - sofern es außer der Sportministerin noch welche gibt.

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