WM 2010: Fehlentscheidungen:Kein Tor, eindeutig kein Tor

Nach den krassen Fehlentscheidungen zugunsten von Deutschland und Argentinien steigt die Zahl der Videobeweis-Befürworter. Doch zu einer Regeländerung wird es nicht kommen - wegen einer Einrichtung aus dem 19. Jahrhundert.

Johannes Aumüller

Das Beweisdokument ist eindeutig. Da können sich die englischen Spieler, Trainer und Medien noch so sehr auf den Videobeweis berufen, das Foto zeigt: Der Schuss von Frank Lampard, der in der 38. Minute von der Unterkante der Querlatte zurück auf den Boden prallte und nun für so viele Debatten sorgt, war kein Tor, eindeutig kein Tor. Noch am Abend des Achtelfinal-Duells erstellte ein bislang Unbekannter die unten abgebildete Montage, die auf mehreren Plattformen upgeloadet wurde und seitdem durchs Internet geistert.

Manuel Neuer Frank Lampard Tor Montage

Eine im Internet kursierende Montage beweist: Es war eindeutig kein Tor.

(Foto: Screenshot http://imgur.com/QxJvh)

Doch insgesamt ist beim Thema Schiedsrichter-Entscheidungen Schmunzeln alles andere als angebracht. Zwei krasse Fehlentscheidungen haben die beiden Achtelfinalspiele am Sonntag entscheidend mitgeprägt. Zunächst erkannte der Uruguayer Jorge Larrionda im Spiel Deutschland gegen England nicht, dass Lampards Schuss hinter der Linie landete und verwehrte den Three Lions den Treffer zum 2:2. Dann übersah der Italiener Roberto Rosetti bei Argentiniens 3:1 gegen Mexiko vor dem ersten argentinischen Treffer eine klare Abseitsstellung von Carlos Tevez.

"Schiedsrichter weiter die größten Pfeifen", überschreiben die Agenturen nun schon ihre Meldungen. Denn die Debatte um die Qualität der Schiedsrichter bei dieser WM ist nicht neu. Schon etliche merkwürdige Entscheidungen hat es gegeben: Brasiliens Luis Fabiano durfte den Ball zwei Mal mit der Hand berühren, ehe er ins Tor schoss, die USA verzweifelten darüber, wie der Schiedsrichter Maurice Edus Treffer zum 3:2 gegen Slowenien nur als Abseits werten konnte, und Italien weint nicht nur wegen seines Altherren-Fußballs über das WM-Aus, sondern auch wegen dreier falscher Pfiffe gegen sie.

Vermeintliche Fußball-Romantiker

Doch nach diesen beiden Fällen am Sonntagabend, die nicht irgendwelchen unbekannten und aus sportpolitischen Gründen an der WM teilnehmenden Referees unterliefen, sondern zwei Schiedsrichtern der internationalen Klasse, gewinnt die Diskussion noch einmal an Fahrt. Vor allem, weil sowohl Lampards Tor als auch Tevez' Abseitsstellung in der Wiederholung eindeutig waren. Besonders absurd mutete die Szenerie in Johannesburg an, wo noch während der Spielunterbrechung Schiedsrichter Rosetti die Abseitsstellung auf der Stadion-Leinwand hätte sehen können, wenn er sie denn hätte sehen dürfen. Doch das Fifa-Reglement verbietet bekanntlich elektronische Hilfsmittel.

Je öfter solche Fälle auftreten, desto weniger geht es um die konkrete Schiedsrichter-Leistung an sich, als vielmehr um die merkwürdige Handhabung der Fifa. Über vermeintliche Fußball-Romantiker wie Günter Netzer ("Der Fußball braucht keinen Videobeweis, Fußball ist Drama!") schüttelt selbst dessen treuer Partner Gerhard Delling den Kopf.

Die Gruppe der Videobeweis-Befürworter wächst und wächst, Spitzenfußballer, Spitzentrainer und Spitzenschiedsrichter fordern andauernd dessen Einführung - oder, wahrscheinlich noch sinnvoller, die Entwicklung eines Chips im Ball, der beim Überfliegen einer Linie akustische Signale an den vierten Mann am Spielfeldrand sendet, der wiederum den Schiedsrichter informiert.

Die mächtigen Herren

Selbst Franz Beckenbauer verzweifelte nach Lampards nicht gegebenem Tor. "In dem Fall, wenn es noch keinen Torrichter gibt - so wie in der Europa League getestet - hätte der Vierte Offizielle was sagen müssen", sagte er dem Fernsehsender Sky. "Warum sitzt der da draußen? Er hat ja den Bildschirm, er hat ja den Videobeweis, und dann gibt er dem Schiri einen Hinweis und dann gibt es ein Tor."

Sinnvoller wäre es nur, wenn Beckenbauer diese Erkenntnis nicht dem deutschen Fernsehpublikum, sondern in seiner Eigenschaft als Mitglied der Fifa-Exekutive den zuständigen Gremien mitteilen würde. Die Einzigen, die nämlich die bisherige Regel überarbeiten und Hilfsmittel wie den Videobeweis oder den Chip im Ball einführen können, sind die Mitglieder des sogenannten International Football Association Board (IFAB), einem Kommissionrelikt aus dem 19. Jahrhundert, in dem neben vier Fifa-Mitgliedern und einem Delegierten aus England auch Herren aus den anerkannten Fußball-Großmächten Schottland, Wales und Nordirland sitzen.

An der Haltung dieser acht Herren hat sich seit dem 19. Jahrhundert nicht viel verändert. Erstens gehören ihrer Meinung nach Fehler zum Fußball dazu, und zweitens soll der Fußball auf der ganzen Welt von der Champions League bis zur Kreisliga nach denselben Regeln gespielt werden. Und deshalb votierte das Gremium erst im März 2010 wieder gegen den Einsatz von Hilfsmitteln. Da entschieden sie, "der Technik die Tür endgültig zu verschließen", wie es Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke formulierte. "Die Frage war, sollen wir Technik im Fußball zulassen, und die Antwort war ganz klar: Nein!"

Der Stoff für den Stammtisch geht niemals aus

Dass ihre Argumente nur schwer haltbar sind, interessiert sie dabei nur wenig. In der Champions League geht es um Hunderte Millionen Euro, in der Kreisliga um den Spaß. Und Fehler würde es im Fußball auch mit einem Videobeweis oder einem Chip weiter geben, unfassbare Torwartböcke, falsche Taktiken und Stürmer, die hundertprozentige Torchancen versieben, und Trainer, die falsche Taktiken wählten. Der Stoff für den Stammtisch wird dem Fußball niemals ausgehen.

Solange die Fifa- und IFAB-Herren diese sture Meinung vertreten, verhindern sie auch die eigentliche, viel interessantere Debatte. Wie könnten Videobeweis und/oder Chip denn sinnvoll eingesetzt werden? Sollen sie nur bei Toren und Abseitspositionen zu Rate gezogen werden oder auch bei x-beliebigen Zweikämpfen im Mittelfeld? Hat jede Mannschaft wie im Tennis oder im Hockey die Möglichkeit, ein-, zwei- oder dreimal pro Partie die Entscheidung des Schiedsrichters anzuzweifeln?

Doch diese Diskussionen verhindert ein Gremium aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht kommt es bald vermehrt zu sogenannten Torrichtern, aber vermeidbare Schiedsrichter-Fehler bleiben Bestandteil des Fußballs und werden weiterhin für viel Ärger sorgen - und nicht immer gibt es wie diesmal ein Bild, das wenigstens kurzzeitig für Schmunzeln sorgt.

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