WM 2010: Fehlentscheidungen:Gelb fürs Regelwerk

Dass Müller im Halbfinale gesperrt fehlt, ist weniger eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters als vielmehr ein Fehler der Spielregeln. Nicht zum ersten Mal während dieser WM zeigt sich, dass Reformen nötig sind.

Johannes Aumüller

Bis zum Spiel gegen Argentinien hatte es Deutschland mit den Schiedsrichterleistungen gut getroffen. Kein einziges Mal war die Elf von Joachim Löw spielentscheidend benachteiligt worden, selbst die Emotionen um die gelb-rote Karte von Miroslav Klose gegen Serbien war nach kurzer Aufgeregtheit der Erkenntnis gewichen, dass der unnötige Übereifer des Angreifers am Platzverweis den größeren Anteil hatte als die pingelige, aber vertretbare Auslegung des spanischen Schiedsrichters Alberto Undiano.

Nun ist Deutschland auch gegen Argentinien nicht spielentscheidend benachteiligt worden, aber dennoch ist eine hitzige Diskussion um die Leistung von Schiedsrichter Ravshan Irmatov (Usbekistan) im Gange. Der Auslöser: die gelbe Karte für Thomas Müller wegen Handspiels, wegen der Deutschlands Vierfach-Torschütze im Halbfinale gegen Spanien fehlen wird.

Die Szene war in der Tat umstritten. In der 36. Minute kam der Ball von Lionel Messis Brust an den Oberkörper von Thomas Müller, von dort prallte er gegen dessen linken Arm. Doch war es ein absichtliches Handspiel? Fakt ist, dass Müller den Ball mit der Hand berührte. Fakt ist auch, dass die Distanz zwischen Messi und Müller recht kurz war. Fakt ist andererseits, dass Müller nach der Oberkörper-Berührung und vor der Unterarm-Berührung seine Hand bewegte. Aus dieser Gemengelage heraus gab Irmatov Gelb wegen absichtlichen Handspiels - eine zumindest fragwürdige Entscheidung.

Entsprechend fielen auch die Reaktionen aus. "Das Handspiel war nicht gelbwürdig" sagte Bundestrainer Joachim Löw. Tilmann Mehl kommentierte in der Augsburger Allgemeinen stellvertretend für viele: "Freistoß? Okay, vielleicht. Eine gelbe Karte? Absoluter Irrsinn." Dieser Meinung dürften sich viele Beobachter anschließen. Allein: Eine solche Handhabung - Freistoß ja, Verwarnung nein - wäre nicht zulässig gewesen.

Gemäß Paragraph zwölf des Regelwerks ist ein Spieler bei einem Handspiel zu verwarnen, wenn er durch ein absichtliches Handspiel verhindert, dass der Gegner in Ballbesitz kommt. Müllers Ballberührung erfolgte kurz vor dem eigenen Strafraum, und wahrscheinlich wäre der Ball bei einer Nichtberührung durch Müllers Unterarm wieder bei Messi gelandet, der sich anschickte, Müller zu umlaufen.

Folglich musste der Schiedsrichter in dem Moment, in dem er auf Absicht entschied, auch die gelbe Karte zeigen - ansonsten hätte er gegen die eigenen Regeln verstoßen. Die besagen: entweder gar nicht pfeifen oder pfeifen und Gelb zeigen. Es wäre durchaus sinnvoll, wenn die Kartenpflicht in diesem Fall nicht existieren würde, so wie sie auch nicht existiert, wenn bei einem absichtlichen Handspiel der Gegner keine Chance hat, an den Ball zu kommen.

Regelkonform und trotzdem nicht fair

Die Aufregung um Thomas Müllers gelbe Karte ist nicht die einzige Regelfrage, die während dieser Weltmeisterschaft die Gemüter erhitzt. Fast schon zu den Klassikern zählen Situationen wie die während des Vorrundenspiels zwischen Südafrika und Uruguay, als Itumeleng Khune, der Torwart der Gastgeber, beim Stand von 0:1 den gegnerischen Angreifer Claudio Suárez im Strafraum mit einer Notbremse stoppte.

Als Folge dieser Aktion gab es - vom Schweizer Schiedsrichter Massimo Busacca völlig regelkonform gelöst - die rote Karte für Khune und Elfmeter für Uruguay. Diego Forlan traf zum 2:0, Südafrika war nur noch zu zehnt, die Partie entschieden. Viele monieren, dass Südafrika damit doch doppelt bestraft worden sei, und fragen sich: Sollte es bei Notbremsen im Strafraum nicht ausreichend sein, dem Gegner einen Elfmeter zu geben?

Der von Itumeleng Khune gefoulte Uruguayer Luis Suárez war auch der Hauptbeteiligte einer weiteren heftigen Debatte. Im Viertelfinale gegen Ghana klärte der Angreifer in der letzten Minute der Verlängerung auf der Torlinie - indem er mit der Hand den Ball abwehrte. Suárez sah zwar Rot, doch Ghanas Asamoah Gyan vergab den Strafstoß, die Partie ging ins Elfmeterschießen, das Uruguay gewann. "Es war die beste Torwartparade der WM", scherzte Suárez, den nun ein ganzes Land als Helden feiert. Und wegen dessen grober Unsportlichkeit die ganze Welt nun diskutiert: Ist eine Regel, die so etwas möglich macht, gerecht? Zumal sich die Szene ja in der 121. Minute abspielte und der Sinn einer roten Karte damit ad absurdum geführt wurde.

In einem Beitrag von Jens Weinreich hieß es auf Spiegel Online: "Im Basketball, um mal eine Anleihe in einer anderen Sportart zu nehmen, gibt es die sogenannte Goaltending-Regel. Wird die Flugbahn des Balles regelwidrig verändert, bestraft man den Regelverletzer, aber nicht zugleich auch den Angreifer (beim Fußball gibt es statt sofort eines Tores erst einmal nur einen Elfmeter; Anm. d. Red.) - denn die Punkte werden gegeben." Die Basketball-Regeln besagen, dass ein Richtung Korb fliegender Ball nur geblockt werden darf, solange er noch im Steigen ist.

Grundsätzlich ist das ein interessanter Gedanke. Doch die genaue Auslegung einer solchen Regel müsste noch diskutiert werden. Im Basketball ist relativ eindeutig, welcher Ball sich auf dem Weg zum Korb befindet und welcher Ball ein potentieller Punktewurf, im Fußball ist das ungleich schwerer. Suárez' Situation ist eindeutig, aber wie müsste man unter Berücksichtigung einer Fußball-Goaltending-Regel entscheiden, wenn er drei Meter vor dem Tor gestanden hätte? Und womöglich noch ein Kollege hinter ihm?

Anders als in der Videobeweis-Frage können in diesen Fällen die jeweiligen Reformbefürworter sogar hoffen, dass die entscheidenden Herren sogar reagieren. Denn vom passiven Abseits bis zum Rückpass haben die Regelhüter des International Football Association Board (IFAB) die Fußballregeln schon revidiert. Warum also nicht auch in den beschriebenen Beispielen?

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