Harry Maguire:Plötzlich wieder der Schädel der Nation

Harry Maguire: Herr der Lüfte: Englands Abwehrchef Harry Maguire (rechts) im Duell mit US-Stürmer Haji Wright.

Herr der Lüfte: Englands Abwehrchef Harry Maguire (rechts) im Duell mit US-Stürmer Haji Wright.

(Foto: Paul Ellis/AFP)

An Englands Verteidiger Harry Maguire kommt bei dieser WM bislang kaum einer vorbei. Dabei hatte er im Klub zuletzt mit einem Leistungstief und harter Kritik zu kämpfen - und mit Cristiano Ronaldo.

Von Sven Haist, al-Wakra

Als wäre zuletzt nicht schon genug über Harry Maguire gesprochen und geschrieben worden, fiel sein Name vor wenigen Tagen auch noch in einer Parlamentsdebatte über den Haushaltsplan fürs nächste Jahr - in Ghana! Dabei stellte ein Abgeordneter einen sehr bizarr anmutenden Vergleich an, indem er den Vizepräsidenten seines Landes als "unseren Wirtschafts-Maguire" verunglimpfte - als einen, der nur "Eigentore" fabriziere und damit "den Gegnern" helfe.

Diese indirekte Schmähung passte zu all den frontalen Diffamierungen, die Englands Fußballnationalverteidiger seit anderthalb Jahren über sich ergehen lassen muss. Luke Shaw, sein Mitspieler bei Manchester United, sagte kürzlich, er hätte "nie zuvor" einen Fußballer erlebt, der "mehr Kritik" aushalten müsse als Maguire. Nachdem sich der 29-Jährige vor der WM bei der Generalprobe in der Nations League gegen Deutschland (3:3) bei zwei Gegentoren Fehler geleistet und sich zudem am Oberschenkel verletzt hatte, stellten ihn die meisten Beobachter in England infrage und forderten seine Streichung aus der Startelf. Und sogar ganz aus dem Nationalteam.

Es herrschte Unverständnis darüber, dass Trainer Gareth Southgate trotzdem an Maguire festhielt und ihn für das Turnier in Katar nominierte. Vor dem Achtelfinalduell der Engländer mit Senegal am Sonntagabend (20 Uhr) wird nun angesichts der Zahl an formstarken Akteuren im Kader über nahezu jede Startelfposition diskutiert. Nur ein Spieler steht auf der Insel plötzlich außer Frage: Maguire.

Die 87 Millionen, die Manchester für ihn überwies, gelten noch immer als höchste je bezahlte Ablöse für einen Verteidiger

Mit seinen bisherigen Turnierleistungen in der Innenverteidigung knüpfte Maguire an seinen Durchbruch bei der WM 2018 und an seine starken Auftritte bei der EM 2021 an. Bei beiden Großereignissen machte er mehr mit seinem Kopf von sich reden als mit seinen Füßen. Ihm gelang jeweils ein Tor per Kopf, wodurch er kurzerhand zum Kopf seines Teams deklariert wurde - und so auch jetzt wieder: Gleich im Auftaktspiel gegen Iran köpfelte der 1,94 Meter große Maguire einen Eckball an die Latte und bereitete daraufhin nach einer weiteren Ecke auf dieselbe Weise einen Treffer vor. Und: In drei WM-Spielen kassierte der Mitfavorit England erst zwei Gegentore (beim 6:2 gegen Iran), nur bei einem dieser Treffer stand Maguire auf dem Platz - und das nicht mal im Vollbesitz seiner Kräfte: Er klagte über Unwohlsein und wurde nach dem ersten Gegentor ausgewechselt.

Auch für die USA und Wales gab es am Verteidiger Maguire danach kein Vorbeikommen. Nach gewonnenen Zweikämpfen besangen mitunter dieselben Fans, die ihn kürzlich noch gnadenlos im England-Trikot ausgepfiffen hatten, lautstark ihren "Riesenkopf". Maguire ist jetzt erneut der liebevolle Schädel der Nation, der mit seiner imposanten Statur an den ehemaligen DFB-Abwehrrecken Robert Huth erinnert, mit dem er einst bei Leichester City zusammenspielte.

Gemessen an seiner Robustheit ist Maguire auch im Spielaufbau erstaunlich gut. In seiner Karriere erwarb er sich den Ruf, das Offensivspiel durch seine Pässe und Vorstöße mit dem Ball antreiben zu können. Obwohl er als Rechtsfuß vorwiegend auf der für ihn eher komplizierten halblinken Abwehrseite agiert, hat er sich den Mut für solche Aktionen bewahrt. Aber vor allem haut diesen Harry Maguire so leicht nichts um.

Nach seinem Wechsel aus Leicester zu Manchester United 2019 - für 87 Millionen Euro, was noch immer als die höchste je bezahlte Ablöse für einen Verteidiger gilt - etablierte sich Maguire in einem schwierigen Umfeld auf internationalem Niveau. Der Haudegen aus der Arbeiterstadt Sheffield führte den strauchelnden Rekordmeister auf Anhieb als Kapitän zu einem beachtlichen dritten und danach zum zweiten Platz in der Premier League. In beiden Saisons gehörte er zu den Feldspielern mit den meisten Pflichtspielminuten in Europa. Und beinahe hätte er mit England zur Krönung 2021 erstmals den EM-Titel gewonnen. Im verlorenen Elfmeterschießen gegen Italien verwandelte Maguire Englands zweiten Versuch.

Die einen tätscheln ihn, die anderen reiben sich an ihm

Doch anschließend erging es ihm wie einigen Mitspielern: Er fiel in ein Leistungsloch. Eine Rolle spielte dabei, dass United einen gewissen Cristiano Ronaldo verpflichtete. Bei der Rückkehr an die alte Wirkungsstätte bemühte sich der eitle Portugiese um das Kapitänsamt und war sich nicht zu schade dafür, intern bei jeder Gelegenheit gegen seinen Mitspieler zu wettern. Diese Auseinandersetzung setzte Maguire zu. Er leistete sich mehrere unglückliche Auftritte, die massiv an seinem Standing rüttelten. Sogar so sehr, dass Uniteds neuer Trainer Erik ten Hag ihn in dieser Saison meist nicht aufstellte - wovon sich Englands Coach Southgate allerdings nicht beeindrucken ließ.

Southgate weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass die öffentliche Meinung in England zwischen Überschwang und Verdammung nichts zu kennen scheint. Daran wird sich im Fall von Harry Maguire wohl auch nichts mehr ändern: Die einen tätscheln ihn, die anderen reiben sich an ihm. Bloß unberührt lässt er keinen - selbst in Ghana nicht.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusSenegals Trainer Aliou Cissé
:"Er ist ein Löwe"

Dass Senegal es ohne Sadio Mané bis ins WM-Achtelfinale gegen England geschafft hat, liegt zu großen Teilen an Trainer Aliou Cissé. Seine Lebensgeschichte ist noch ungewöhnlicher als seine Outfits.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: