WM 2010: England:Schönes Scheitern

England scheitert oft, und England scheitert oft tragisch. Kaum eine Nation ist derart optimistisch vor einem Turnier und leidet derart mit ihren gefallenen Helden - doch kaum eine Nation ist selbstironischer im Umgang mit Niederlagen.

Jürgen Schmieder

Im Jahr 1962 entwarf der französische Comiczeichner René Goscinny die Figur Isnogud: ein kleines intelligentes Kerlchen, das unbedingt Kalif werden will anstelle des Kalifen. In jeder Folge hat er einen noch genialeren Plan und noch genialere Komplizen, um am Ende jedes Mal auf tragische und teils urkomische Weise zu scheitern.

WM 2010: England: Enttäuschung pur: Paul Gascoigne nach dem WM-Halbfinale 1990.

Enttäuschung pur: Paul Gascoigne nach dem WM-Halbfinale 1990.

(Foto: ap)

Goscinny konnte nicht ahnen, dass er mit seinem tragischen Helden ein Abbild der englischen Nationalelf schuf. Seit dem Titelgewinn 1966 will die Elf Weltmeister werden anstelle des Weltmeisters. Bei jedem Turnier hat sie eine noch genialere Taktik und noch genialere Spieler, um am Ende jedes Mal auf tragische und teils urkomische Weise zu scheitern.

Zwischen 1990 und 2006 trat sie sechs Mal bei großen Turnieren im Elfmeterschießen an, sie unterlag fünf Mal, darunter zwei Mal Deutschland. Im Achtelfinale der WM 1998 führte England gegen Argentinien mit 2:1, dann sah David Beckham die rote Karte - England schied aus. Im Viertelfinale der WM 2002 flogen sie nicht aus dem Turnier, weil die Brasilianer besser gespielt hätten, sondern weil Torwart David Seaman an einem Freistoß von Ronaldinho aus 40 Metern vorbeiflog.

Das Scheitern gehört zur englischen Nationalelf wie die drei Löwen auf dem Shirt - beeindruckender als der permanente Misserfolg bei großen Turnieren ist indes der Umgang der britischen Anhänger mit dem permanenten Misserfolg. Kaum eine Nation ist derart optimistisch vor einem Turnier, kaum eine Nation leidet dermaßen mit ihren versagenden Helden, und kaum eine Nation ist selbstironischer im Umgang mit Niederlagen. "Es gibt nicht viele Dinge, in denen wir Engländer gut sind", sagt der britische Dirigent Simon Rattle im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. "Aber Selbstironie beherrschen wir hervorragend."

"And even Emile Heskey scored"

Dies zeigt sich vor allem im Lied "Three Lions", das seit 1996 immer wieder in verschiedenen Versionen erscheint. Es geht in dem Song nicht - wie in vielen anderen Fußballiedern, dem mittlerweile nervigen "54, 74, 90, 2010" etwa - um die heroische Vergangenheit, sondern um das permanente Versagen, das in dieser Textzeile gipfelt: "Ich weiß, dass sie spielen können, aber England wird es wegwerfen, wird es vermasseln." Im Video werden an dieser Stelle Bilder gezeigt vom ungläubig dreinblickenden David Beckham, vom weinenden Paul Gascoigne, vom verzweifelnden Gary Southgate - und von Fans, die trauern, sich umarmen oder randalieren.

Direkt nach dem Scheitern erfolgt bei den englischen Fans die Suche nach dem Sündenbock und das Komponieren von Schmähgesängen - wobei auffällig ist, dass niemals dem Schiedsrichter die Schuld zugeschrieben wird und einem Spieler der anderen Mannschaft nur dann, wenn er sich besonders unfair verhalten hat. Verantwortlich ist stets ein Spieler des eigenen Teams.

Gareth Southgate etwa wurde aufgrund des verschossenen Elfmeters im EM-Halbfinale ein Lied der Band Business gewidmet, an einer Stelle heißt es: "Er verpasst sogar einen Bus, sogar seine Mutter denkt, dass er ein Idiot ist." Diese Ironie geht so weit, dass selbst Erfolge wie das 5:1 in München zynisch betrachtet werden, noch heute singen die Fans: "5:1 - and even Emile Heskey scored!"

Nach dem Scheitern oder miserablen Leistungen setzt dann schnell wieder dieser Optimismus ein, der an Hybris grenzt. Freilich war die englische Nationalelf in den Augen der Fans vor dem Turnier die talentierteste aller Zeiten, die Anhänger sangen: "No more years of hurt" - die jahrelange Leidenszeit ist vorbei. Und natürlich sind die wackligen Leistungen in der Vorrunde vergessen, die deutsche Elf soll im Achtelfinale besiegt werden. Schließlich wollen die Engländer Weltmeister werden anstelle des Weltmeisters.

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