WM 2010: Deutscher Kader:Baustellen überall

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Abwehr sucht "Schleich"-Nachfolger, Mittelfeld ist talentiert aber jung, im Angriff droht der Halbzeitflüchtling: Einen Monat vor der Nominierung sind im WM-Kader noch einige Stellen offen.

Thomas Hummel

Seitdem Joachim Löw bei der Nationalmannschaft ist, hat die Kadervorstellung vor einem großen Turnier immer etwas von Weihnachten: Was wird da wohl drin sein in den Paketen? Im Mai 2006 (Löw war noch Ko-Trainer) lugte vor der Heim-WM aus einem die zuvor kaum bekannte Rennmaus David Odonkor heraus, 2008 (Löw inzwischen Bundestrainer) wunderten sich die zur EM-Kader-Präsentation auf die Zugspitze gefahrenen Gäste über den Zweitligaspieler Marko Marin.

Nur noch ein Monat, dann darf der Bundestrainer Löw die Nation wieder überraschen. Am 6. Mai wird er im Stuttgarter Mercedes-Benz-Museum die möglichen Südafrika-Fahrer benennen (den endgültigen Kader will die Fifa bis zum 5. Juni wissen), und so wie es momentan aussieht, muss die Fußballnation hoffen, dass Löw noch ein paar Spieler entdeckt, mit denen derzeit keiner rechnet. Denn von den einst sicheren Kandidaten fallen nun schon so viele aus oder spielen derart unter Form, dass der Fußballnation durchaus mulmig werden könnte beim Gedanken an die WM.

Lesen Sie auf den folgenden Seiten eine Bestandsaufnahme des DFB-WM-Kaders einen Monat vor dessen Nominierung.

Torwart

Das Torwartland Deutschland hat die Frage nach dem WM-Torwart und seinen Ersatzmännern bereits beantwortet bekommen: Bundestrainer Löw und Bundestorwarttrainer Andreas Köpke haben sich auf den Leverkusener René Adler als Nummer eins geeinigt. Dabei verdeutlicht Löw seine erste Maxime: Die Leistungen im Nationalteam sind entscheidend, Leistungen in der Bundesliga können nur im Extremfall den Ausschlag geben.

Und weil Adler in den beiden entscheidenden Qualifikationsspielen gegen Russland glänzend gehalten und bewiesen hat, den Druck solcher Partien bewältigen zu können, durfte er sich in der Bundesliga einige Fehler erlauben und liegt dennoch in der Hierarchie vor Manuel Neuer und Tim Wiese.

Wer auch immer am Ende im Tor steht, er wird als einer unerfahrensten Torhüter der DFB-Geschichte in ein großes Turnier gehen: Adler hat derzeit neun Länderspiele, Neuer und Wiese je zwei.

Weitere Kandidaten wie der Dortmunder Roman Weidenfeller lösen ihr Ticket nur noch, wenn einer der drei Genannten ausfällt.

Abwehr

Als Abwehrchef wird der 25-jährige Bremer Per Mertesacker nach Südafrika fliegen. Doch wer soll daneben den zentralen Weg zum deutschen Tor verstellen? Das Paar Mertesacker/Metzelder, für das die Bild-Zeitung vor der EM 2008 die Kosenamen "Schnarch und Schleich" erfand, wird es mangels Schleich (Metzelder) nicht mehr geben.

In der "Schleich"-Nachfolge stellt sich das erste große Problem für Joachim Löw. Kandidat eins, Heiko Westermann, spielt bei Schalke oft links. Kandidat zwei, Serdar Tasci, spielte in Stuttgart zuletzt gar nicht. Kandidat drei, Arne Friedrich, erlebt eine Horror-Saison in Berlin.

Und so kommen immer wieder die U21-Europameister Benedikt Höwedes (Schalke) und Mats Hummels (Dortmund) oder Bayern-Verteidiger Holger Badstuber ins Spiel. Doch bislang hat sich Löw festgelegt, dass diese Talente erst nach der WM eine Rolle in der Nationalelf spielen werden.

Jerome Boateng könnte zwar auch innen spielen und würde dies auch gerne, doch ist er mit 21 Jahren unerfahren und gilt als erste Option für die Position des rechten Außenverteidigers. Philipp Lahm muss mangels anderer Kandidaten wohl wieder von seiner Bayern-Rechtsposition auf links umlernen. Aber viele Kritiker halten ihn da sowieso für stärker.

Alternativen, rechts: Andreas Beck (Hoffenheim), Andreas Hinkel (Celtic Glasgow), Gonzalo Castro (Leverkusen), Christian Träsch (Stuttgart).

Links: Marcel Schäfer (Wolfsburg), Dennis Aogo (Hamburger SV)

Mitte: Mit Robert Huth (Stoke City) ist derzeit wohl nicht mehr zu rechnen, ebenso wenig mit Marvin Compper aus Hoffenheim.

Mittelfeld, defensiv

Auf der so genannten Doppel-Sechs hat sich Bundestrainer Löw wohl auf Michael Ballack und Bastian Schweinsteiger festgelegt. Ob diese sehr offensiv ausgerichtete Paarung funktioniert, wird Streitpunkt vieler Diskussionen sein. Auch weil Ballack bei Chelsea nicht gerade eine glanzvolle Saison erlebt. Doch Alternativen auf diesen wichtigen Positionen sind schwer zu finden.

Torsten Frings ist raus, Sami Khedira hat sich das Kreuzband angerissen, Simon Rolfes fällt die gesamte Rückrunde wegen einer Knieverletzung aus, Thomas Hitzlsperger ist von der Stuttgarter Bank auf die von Lazio Rom gewechselt.

Bleibt der Stuttgarter Christian Träsch, 22, durch seine enorme Lauf- und Kampfkraft eine Art Jung-Frings, allerdings sprechen ihm die Kritiker die nötige Fertigkeit am Ball ab. Außerdem nominierte Löw zum Argentinien-Spiel Christian Gentner, doch auch der Wolfsburger hat die Eignung für das ganz hohe Niveau noch nicht nachgewiesen.

Wegen der vielen Ausfälle und Unpässlichkeiten bahnt sich hier vielleicht eine Überraschung an: Seit Sebastian Kehl, 30, in Dortmund die Zentrale lenkt, träumt der BVB wieder von der Champions League. Und Kehl hat sowohl im Klub wie auch unter (Ko-Trainer) Löw bereits internationale Klasse bewiesen.

Weitere Optionen: Gonzalo Castro (Leverkusen), Sven Bender (Dortmund). Der Hoffenheimer Tobias Weis dürfte kein Kandidat mehr sein.

Mittelfeld, offensiv

In kaum einem anderen Mannschaftsteil fliegen dem Trainer Löw derzeit so viele Talente zu. Im vergangenen Jahr musste er schon sein Taktik ändern, weil sich mit Mesut Özil, 21, ein Spieler aufdrängte, den es so vorher seit Jahren gar nicht mehr gab: ein Gestalter hinter den Spitzen. Seitdem lässt Löw gerade gegen starke Nationen wie Russland oder Argentinien von seinem geliebten 4-4-2 ab und stellt auf 4-5-1 um, womit Platz für drei offensive Mittelfeldspieler ist.

Links neben Özil war hier zuletzt der Platz von Lukas Podolski, 24. Und selbst wenn die Kritik am Kölner weiter anschwellen sollte, Podolski scheint bei Löw eine feste Größe zu sein. Rechts von Özil klafft durch den Wechsel von Schweinsteiger in die Zentrale eine Lücke: Gegen Argentinien wurde diese von den zwei Debütanten Thomas Müller, 20, und Toni Kroos, 20, gefüllt.

Während allerdings alle Vier weder gegen Argentinien noch derzeit in der Bundesliga überzeugen, drängt sich der Bremer Dribbler Marko Marin, 21, vehement auf. Der Hamburger Piotr Trochowski, 25, kommt langsam in Form, auch Aaron Hunt, 23, darf sich Chancen ausrechnen. Für den Hamburger Marcell Jansen, 24, könnte es dagegen nach seiner Verletzung eng werden mit der WM.

Bei allen Optionen aber öffnet sich ein Graben der Unsicherheit: Alle Kandidaten sind hoch veranlagt, aber bis auf Podolski und Trochowski sehr jung und unerfahren.

Angriff

Wenn die etablierten Stürmer nicht bald Freude bereiten, schnappt bei Löw unweigerlich die Kuranyi-Falle zu. Eigentlich hat der Bundestrainer den Halbzeitflüchtling längst abgeschrieben, doch nun droht der 28-Jährige, den FC Schalke zur Meisterschaft zu schießen. Und wenn sich Franz Beckenbauer für eine Begnadigung ausspricht, kann ein Bundestrainer eigentlich nicht anders. Auch die Mitspieler Friedrich, Wiese und Schweinsteiger rechnen inzwischen mit Kuranyis Rückkehr.

Was auch an der Schwäche der Konkurrenz liegt: Löws Lieblingsstürmer Miroslav Klose sitzt in München entweder auf der Bank oder spielt schwach. Mitstürmer Mario Gomez besetzt bei Bayern ebenfalls nur eine Nebenrolle und verstieß zudem gegen die Löw-Regel Nummer eins: Noch nie hat er im Nationaltrikot überzeugt. Löw-Lieblingsstürmer Nummer zwei, Podolski, bangt in Köln um Einsätze und Form. Und der in der Vorrunde glänzende Stefan Kießling (Leverkusen) fiel im neuen Jahr etwas ab und beklagte Verletzungen.

Starke Auftritte hatte zuletzt nur der Stuttgarter Cacau. Wenn man Kevin Kuranyi einmal ausnimmt.

Alternative: Patrick Helmes ist nach seinem Kreuzbandriss wohl kein Kandidat mehr.

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