WM-Aus Russlands:Wie Soldaten, die zu früh abgezogen wurden

  • Trotz des Scheiterns im Viertelfinale der Heim-WM wird die russische Elf von Fans, Medien und Politik gefeiert.
  • Mit martialischer Rhetorik beschließt der Kreml sein Sommermärchen - die Zukunft von Trainer Tschertschessow ist dennoch offen.
  • Zu den Ergebnissen der Fußball-WM in Russland geht es hier.

Von Johannes Aumüller, Sotschi

Der Trainer verließ den Ort der Niederlage als Erster. Stanislaw Tschertschessow zog seinen schwarzen Rollkoffer, hinter ihm kam zufälliger-, aber ob des Spielstils der russischen Nationalelf auch bezeichnenderweise der spanische Konditionstrainer. Das Team, die Sbornaja, war ausgeschieden, aber der Trainer musste sich nicht unwohl fühlen, als er anderthalb Stunden nach Mitternacht in der Mixed Zone auftauchte. "Spasibo!" riefen ihm viele Journalisten zu, danke; vereinzelt gab es gar Applaus, und dann ging Tschertschessow noch schnurstracks zu Boris Levin.

Levin ist ein eher unscheinbarer älterer Mann mit großer Brille und gestutztem grauem Bart, und er ist eine Art Lieblingsjournalist aller Sbornaja-Vertreter. Vor allem früher war er sehr einflussreich und als devoter Interviewer geschätzt, aber noch heute geht fast der komplette Kader nach jedem Spiel zu ihm. Levin dankte auch noch einmal ausführlich, danach zog Tschertschessow von dannen, aber wie er so ging, da sah er bei aller Enttäuschung auch ein bisschen stolz aus.

Der Gastgeber ist weit gekommen bei dieser Weltmeisterschaft, bis ins Viertelfinale, viel weiter als insbesondere von der eigenen Öffentlichkeit erwartet. Aber nun scheiterte Russland in einem dramatischen Duell an Kroatien, nach diversen Wendungen und einem 3:4 im Elfmeterschießen. Und natürlich waren die Russen zunächst einmal mächtig enttäuscht: Der mit einem übermütigen Lupfer im Elfmeterschießen gescheiterte Fjodor Smolow kniete noch lange im Mittelkreis, Angreifer Artjom Dsjuba weinte live im TV, in der Kabine herrschte tiefe Niedergeschlagenheit, wie Besucher berichteten. Und Trainer Tschertschessow wirkte bei der Pressekonferenz so erschöpft, dass er die ersten Fragen gar nicht richtig mitbekam.

Aber es hat dann auch nicht lange gedauert, bis sie umgeschaltet haben in die Bewertung ihres verblüffend erfolgreich bestrittenen Turniers. "Wir fühlen uns wie Soldaten, die zu früh abgezogen wurden. Wir hätten gerne noch bis zum 15. Juli gedient", sagte Tschertschessow: "Aber das ganze Land, ganz Russland, ist verliebt in uns. Sie wissen, was die Nationalmannschaft wert ist."

Es war in der Tat eine bemerkenswerte Stimmung, die sich nach dem Knockout offenbarte. Das begann schon im Stadion, als es im Moment des Ausscheidens einen kurzen Moment der Fassungslosigkeit gab, ehe gleich warmer Applaus einsetzte. Und später zeigte sich das erst recht. In Moskau und Sankt Petersburg gab es die ganze Nacht über eine ausgelassene Stimmung, und der Ort der Niederlage eignete sich auch nicht für umfassende Trauer. Das Stadion von Sotschi steht direkt am Schwarzen Meer, aus den Restaurants an der Promenade ertönte laute Musik, die Fans zogen mit ihren Trikots und Fahnen fort und wirkten trotz allem irgendwie glücklich.

Ein paar hundert Meter vom Stadion entfernt sammelte sich im Schein einer dieser dank Joachim Löw berühmt gewordenen Promenaden-Laternen eine stattliche Schar an Fans: Sie schmetterte die russische Nationalhymne nicht wie im Stadion, sondern bot sie ganz ruhig dar, nur von einer Gitarre begleitet. Sehr schön klang das, und vielleicht hätte es noch schöner geklungen, wenn nicht der Initiator dieser Gesangsgruppe ein Herr vom staatlichen Fernsehen gewesen wäre, der noch ein paar Aufnahmen machen wollte.

Und am Tag nach dem Ausscheiden kamen die Mannschaft und die Fans vor der Moskauer Lomonossow-Universität noch zu einer großen Feier-Empfang zusammen.

Der Staatspräsident Wladimir Putin wiederum gratulierte telefonisch, sein Sprecher gab sich martialisch: "Sie sind Helden. Sie sind auf dem Feld gestorben", sagte Dmitrij Peskow. Der Kreml kann extrem zufrieden damit sein, wie das Turnier verlief, er hat sein russisches Sommermärchen inszenieren können. Die Zeitungen wiederum überboten sich gegenseitig. "Danke, Jungs", schrieb der Sowjetskij Sport. Und der Sport-Express würdigte "eines der besten Spiele in der Geschichte" der russischen Elf.

Rakitic bleibt cool

Dabei offenbart sich in dieser Einschätzung zum wiederholten Mal die Krux dieses Turniers. Besonders gut waren die Russen eigentlich nicht, es zeigte sich einmal mehr, dass sie viel und intensiv rennen, wodurch spielerische Defizite ausgeglichen werden. Aber ein Spiel zum Wahnsinnigwerden, das war es schon: erst Russlands Führungstor durch Dmitrij Tscheryschews Fernschuss (31.), schnell folgte der Ausgleich von Andrej Kramaric (39.). Und dann das einsetzende Leiden der Kroaten, ein Pfostenschuss, Krämpfe, zunehmende Müdigkeit, ein verletzter Torwart, der nicht ausgewechselt werden konnte, und trotzdem das Führungstor durch Vidas Kopfball in der Verlängerung.

Es war der Moment, in dem Tschertschessow zum Animateur geriet. Mehrfach ruderte er in Richtung Publikum mit den Armen, um mehr Unterstützung einzufordern. "Ich wollte dirigieren, ich hoffe, Walerij Gergijew ist nicht nachtragend", scherzte er. Wahrscheinlich ist es der Petersburger Dirigent nicht, denn Mario Fernandes gelang tatsächlich der 2:2-Ausgleich per Kopf - dann startete das Elfer-Drama. Smolow und Fernandes vergaben, bei Kroatien zitterte Modric seinen Versuch dank gütiger Mithilfe des Innenpfosten hinein, dann kam die Entscheidung durch Rakitic' cool verwandelten Schuss.

Aber das ändert nichts mehr an der Euphorie, die das Land jetzt für die lange so gescholtene Sbornaja aufbringt. Nicht zuletzt Tschertschessow gilt der Dank. Der Trainer selbst fand noch während des Abends zu alter Form zurück. Als sich ein chinesischer Reporter erkundigte, ob Russland in vier Jahren wieder so eine erfolgreiche WM spielen könne, sagte er: "Ich glaube, dass Sie in China noch Fünfjahrespläne haben, wie wir sie in der Sowjetunion hatten. Sie können gerne schon vier Jahre in die Zukunft schauen, aber ich schaue noch nicht mal vier Tage in die Zukunft."

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Es ist eine Zukunft, in der es aus russischer Sicht nicht zuletzt um eine Frage geht: ob Tschertschessow Trainer bleibt? Denn das ließ er ausdrücklich offen, ehe er in die Nacht von Sotschi entschwand.

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