WM-Auftakt:Dissonanzen bei der Krönung

Alte Zweifel werden wiederbelebt: Der neue 100-Meter-Weltmeister Christian Coleman fühlt sich zu Unrecht verfolgt.

Von Johannes Knuth, Doha

Als der neue König des Sprints sich zu seiner letzten Amtshandlung am Samstagabend aufmachte, blickte er auf nahezu leere Ränge. Die meisten Zuschauer hatten das Khalifa-Stadion pünktlich verlassen, die 100-Meter-Läufer waren ja auch schon vor mindestens zehn Minuten ins Ziel geprescht. Dass das Protokoll dem Weltmeister und seinem Gefolge auch noch eine zeremonielle Auslaufrunde zugesteht, war offenbar noch nicht ganz zum Publikum in Doha vorgedrungen. Aber der neue Throninhaber ließ sich seine Freude nicht davon vermiesen, dass sein letzter Akt an diesem Abend einer Krönungsmesse in leeren Straßen glich. Coleman hüllte sich in die amerikanische Flagge, er winkte jedem tapfer zu, und wenn es nur ein paar Zuschauer im Unterrang waren.

Später fand der 23-Jährige das alles trotzdem großartig. Für seinen ersten großen Titelgewinn im Freien gab er sich die Schulnote eins, für sein Rennen eine "Eins minus", weil er trotz seiner famosen 9,76 Sekunden noch ein paar Dinge hätte besser machen können. Die Atmosphäre im Stadion sei "crazy" gewesen, fand Coleman, er habe "viele Jubelschreie" gehört. Er meinte vermutlich jene paar Tausend Zuschauer, die bis zum letzten Programmpunkt am ersten Finalabend der Weltmeisterschaften in Doha geblieben waren. Und die hatten tatsächlich veritabel gelärmt, schon als das Stadion vor dem 100-Meter-Finale abgedunkelt wurde (und die halb leeren Ränge gleicht mit), während die Laufbahn optisch Feuer fing. "Ich freue mich total über alle, die hier waren", sagte Coleman; alles in allem, bilanzierte er, sei das "der schönste Tag in meinem Leben".

WM-Auftakt: Deutlicher Vorsprung: Der Amerikaner Christian Coleman (links) entthront seinen Landsmann Justin Gatlin (rechts) als 100-Meter-Weltmeister.

Deutlicher Vorsprung: Der Amerikaner Christian Coleman (links) entthront seinen Landsmann Justin Gatlin (rechts) als 100-Meter-Weltmeister.

(Foto: Antonin Thuillier/AFP)

Und je länger man ihm zuhörte, desto mehr beschlich einen das Gefühl, dass man allmählich Zeuge von zwei Abenden wurde: einen, den der schnellste Mann der Welt erlebt hatten. Und einen, der sich schon eher mit der Realität deckte.

In der Pressekonferenz, die nach Ehrenrunde, TV-Interviews und Dopingkontrolle um kurz nach Mitternacht begann, kam die Rede recht zügig auf das Leitmotiv des Abends: Wie es dazu kam, dass Coleman überhaupt in Doha war. Mitte August war bekannt geworden, dass die amerikanische Anti-Doping-Behörde (Usada) gegen ihn ermittelt. Er war, grob gesagt, binnen zwölf Monaten dreimal nicht von Dopingtestern angetroffen worden - zwischen Juni 2018 und April 2019. Macht in der Regel ein Jahr Sperre, mindestens. Die Usada hatte nur übersehen, dass sie Colemans ersten Test hätte rückdatieren müssen - weil dieser seinen Aufenthaltsort, an dem er für die Tester erreichbar sein muss, im Meldesystem nicht aktualisiert hatte. Das wird, auch grob gesagt, anders behandelt als ein Test, bei dem man die Fahnder am Ort verpasst. Die Tests lagen nun jedenfalls nicht mehr im Ein-Jahres-Fenster, die Usada zog ihr Verfahren zurück, Coleman durfte wieder laufen. Dafür lastet nun der Argwohn auf ihm, schwer wie Blei.

Michael Johnson, der viermalige Leichtathletik-Olympiasieger aus den USA, sprach im britischen Frühstücksfernsehen zuletzt das aus, was viele in der Szene denken: "Ganz klar, die Usada hätte dieses Verfahren nie eröffnen dürfen." Aber wenn Coleman sich als neuer Hauptdarsteller seines Sports positionieren wolle, müsse er seinen Meldepflichten besser nachkommen. So, wie er sich vor Doha als Opfer inszeniert habe, fand Johnson, "disqualifiziert er sich als neues Gesicht seines Sports. Das alles wird ihn verfolgen, und das ist richtig so".

Die 100-Meter-Weltmeister

1983 Carl Lewis (USA) 10,07 Sekunden

1987 Carl Lewis (USA) * 9,93

1991 Carl Lewis (USA) 9,86

1993 Linford Christie (Großbritannien) 9,87

1995 Donovan Bailey (Kanada) 9,97

1997 Maurice Greene (USA) 9,86

1999 Maurice Greene (USA) 9,80

2001 Maurice Greene (USA) 9,82

2003 Kim Collins (St Nevis&Kitts) 10,07

2005 Justin Gatlin (USA) 9,88

2007 Tyson Gay (USA) 9,85

2009 Usain Bolt (Jamaika) ** 9,58

2011 Yohan Blake (Jamaika) 9,92

2013 Usain Bolt (Jamaika) 9,77

2015 Usain Bolt (Jamaika) 9,79

2017 Justin Gatlin (USA) 9,92

2019 Christian Coleman (USA) 9,76

----------- * = nach späterer Disqualifikation des zunächst als Sieger geehrten Kanadiers Ben Johnson (9,83 Sekunden) wegen Dopings, ** = aktueller Weltrekord

Coleman lächelte süffisant, als er in Doha darauf angesprochen wurde. "Michael Johnson bezahlt nicht meinen Lebensunterhalt", nuschelte er, den Blick fest in die Ferne gerichtet, "von daher ist es mir egal, was er sagt." Er glaube, dass jeder Athlet, der gut sei und sich angemessen verhalte, automatisch zum neuen Werbeträger seines Sports aufsteige. Und überhaupt habe er ja keinen Fehler begangen. Das passte nur nicht so recht zu einer Videobotschaft vor der WM, in der Coleman erklärt hatte, dass zwei der drei verpassten Tests "auf meine Kappe" gehen. Und so verhedderte er sich in Doha zunehmend in seinen eigenen Ausführungen. Mal sagte er, er müsse "gewissenhafter" sein, mal bat er um Nachsicht, weil er halt oft die Welt bereise. Seine Familie sei in Atlanta, das Trainingszentrum in Lexington, die Wettkämpfe überall. Da denke er nicht immer daran, das Meldesystem zu befüllen. Er, der mit einem millionenschweren Vertrag seines Sponsors Nike ausgestattet ist. Aber hey, fand Coleman, "niemand ist perfekt. Ihr Reporter vertippt euch auch mal". Irgendwann hatte der 23-Jährige seine Versäumnisse in den Rang eines Knöllchens argumentiert - dabei ist das einer der Grundpfeiler der Anti-Doping-Bemühungen: dass die Athleten jederzeit und unangekündigt für Kontrollen auffindbar sind.

Aber das störte Coleman offenbar nicht. Er sinnierte lieber darüber, wer die vertraulichen Ermittlungen der Usada an die Medien durchgestochen haben könnte. Nur deshalb würden ihn nun viele anfeinden - "einen schwarzen Jungen, der einfach seinen Traum leben will". Ob er merkte, dass er immer mehr das bestätigte, was Johnson ihm vorgeworfen hatte?

Das waren die fundamentalen Dissonanzen in Doha, die Coleman offenbar nicht hören konnte oder wollte: dass es auch dieses Verhalten ist, mit dem er sich ins Zwielicht rückt. Dass es längst nicht mehr reicht, "einfach meinen Job zu machen und schnell zu laufen", wie er behauptete: "Dann hoffe ich, dass immer mehr Menschen die Schönheit des Sports sehen, die ich in ihm sehe." Die Frage ist ja: welche Schönheit? Welche Schönheit liegt darin, wenn der Beste einer Sparte nur haarscharf einer Sperre entkommt, während viele seiner Vorgänger als Chemiekonsumenten überführt wurden? Oder die nie auffällig waren, wie Usain Bolt, der dafür Heeren von überführten Dopern davonlief? Die WM in Doha war als Aufbruch in eine neue Ära ausgeschrieben gewesen, aber so erinnerte zum Auftakt wieder vieles an die alten Zweifel; man musste nur den Blick auf Colemans Nebenmann bei der Pressekonferenz richten. Justin Gatlin war tatsächlich noch mal Zweiter geworden, mit 37 Jahren, in 9,89 Sekunden vor dem Kanadier Andre de Grasse (9,90). Jener Gatlin, der schon 2004 in Athen über 100 Meter zum Olympiasieger aufstieg, der zwei Dopingsperren absaß und in Doha zugab, dass er wieder von Dennis Mitchell trainiert wird. Von dem hatte sich Gatlin vor zwei Jahren getrennt, weil Mitchell vor versteckter Kamera Dopingmittel-Bestellungen entgegennahm. Und nun? Vertragssache, sagte Gatlin nur, ebenfalls ein Nike-Klient. Mehr könne er dazu nicht sagen.

WM-Auftakt: Blick von oben: Kurz nach dem Start waren sie noch alle gleichauf.

Blick von oben: Kurz nach dem Start waren sie noch alle gleichauf.

(Foto: Jewel Samad/AFP)

Am Ende geriet fast in Vergessenheit, dass Coleman mit seinen 9,76 Sekunden die zweitbeste Zeit in einem WM-Finale gerannt war - schneller war nur Bolt gewesen, bei seinem Fabelweltrekord vor zehn Jahren in Berlin (9,58). Aber als dessen Nachfolger sehe er sich nicht, beteuerte Coleman, Bolts Karriere als Spaßsprinter könne man ohnehin kaum nachstellen. "Alles, was ich tun kann", sagte er, "ist die beste Version von mir selbst zu sein."

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