WM-Affäre des DFB:Stille Post ums brisanteste Papier

Niersbach und Beckenbauer

Franz Beckenbauer (r.) und der damalige DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach - wer wusste wann wie viel?

(Foto: dpa)
  • Gab es Stimmenkäufe der deutschen WM-Macher von 2006?
  • Neue Erkenntnisse über DFB-interne Vorgänge in den Anfangstagen der Korruptions-Affäre werfen viele Fragen auf.
  • Es geht vor allem darum, wer wann von einem Vertrag mit Jack Warner gewusst hat.

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Wolfgang Niersbach hebt selten den Blick, meist fixiert er den Boden. Es ist sein schwerster Tag als Präsident des Deutschen Fußball- Bundes (DFB) - und sein letzter. Am 9. November 2015 tritt er im Zuge der "Sommermärchen-Affäre" zurück. Nicht, weil er sich etwas vorzuwerfen habe, sagt er, sondern nur, weil er politische Verantwortung übernehmen wolle. Denn publik wird an dem Tag auch das Kernstück der Affäre: ein Vertrag aus dem Jahr 2000, geschlossen zwischen den deutschen Werbern um die WM 2006 und der Fifa-Skandalfigur Jack Warner. Es ist ein Dokument, das auch die neue DFB-Spitze sofort als möglichen Bestechungsversuch bezeichnet.

Aber im Zuge der Verbands-Ermittlungen versandet die Jack-Warner-Spur bald - obwohl sie die heißeste überhaupt ist. Und so ist bis heute fast nichts geklärt in dieser Staatsaffäre. Der Öffentlichkeit wurde ein Zerrbild präsentiert, das suggerieren soll, was ja auch alle bis heute beteuern: Nichts weise substantiell darauf hin, dass es Stimmkäufe für die WM 2006 gab! Dieses Fazit ist politisch ideal, zumal sich der Verband gerade fürs nächste Sommermärchen warmläuft, die EM 2024. Aber es ist stark irreführend: Es erwächst aus einer Aufklärungsarbeit, bei der getrickst, gelogen und verschwiegen wurde.

Nun zeigen SZ-Recherchen, wie sehr das auch für die entscheidende Zeit zu Beginn der Affäre von Mitte Oktober 2015 bis zu Niersbachs Rücktritt gilt. Es gibt entlarvende Mails, die bisher nicht oder nur in Auszügen bekannt sind; es geht um die Löschung von Dateien; es geht vor allem um die Frage, wann wer Kenntnis hatte vom brisantesten Papier der Affäre: dem Warner-Vertrag. Die Vorgänge werfen Fragen an den neuen DFB auf - und an die Kanzlei Freshfields, die damals mit den Skandal-Ermittlungen beauftragt worden war.

In internen Runden gibt Niersbach schon früh sehr viel Wissen preis

Als zentrales Mysterium der WM-Affäre gelten bis heute die zehn Millionen Schweizer Franken, die der frühere Adidas-Eigner Robert Louis-Dreyfus 2002 dem deutschen WM-Organisationskomitee (OK) vorstreckte. Das Geld landete bei einer Firma des Fifa-Vizepräsidenten Mohamed Bin Hammam in Katar. 2005 überwies dann das OK 6,7 Millionen Euro - deklariert als Zuschuss für eine WM-Eröffnungsgala - an die Fifa, die es sofort an Louis-Dreyfus weiterleitete. Ein rätselhafter Millionen-Kreislauf. Was der später lebenslang gesperrte Bin Hammam 2002 mit dem Geld machte, ist ungeklärt. Geld für WM-Voten? Eine schwarze Kasse für die Wiederwahl von Fifa-Chef Sepp Blatter?

In der Frage, ob die WM 2006 gekauft war, gibt es neben diesen dunklen Geldtransfers aber noch den anderen Strang: den Warner-Vertrag, der Tage vor der WM-Vergabe auf deutscher Seite von Franz Beckenbauer signiert wird. Und der Warners Nord- und Mittelamerika-Verband Concacaf Gesamtleistungen im Gegenwert von rund zehn Millionen Mark zusichert.

Vieles deutet darauf hin, dass Warner für Deutschland votierte, was den knappen 12:11-Sieg gegen Südafrika sicherte. Und mit Warner - inzwischen die Nummer eins auf der Fahndungsliste des FBI, das den Korruptionssumpf rund um die Fifa ausmistet - macht man keine Millionendeals zum Scherz. Er gehörte überdies wie Bin Hammam dem Fifa-Finanzkomitee an, das den Deutschen ihren WM-Zuschuss auf 250 Millionen Franken aufstockte. Das hätte er kaum abgesegnet, wenn ihn die Deutschen zuvor gelinkt hätten.

Dass sich keine Zahlung an Warner findet, belegt nicht, dass es keinen Stimmkauf gab. Es bieten sich ja viele diskrete Zahlungswege im Fußball an: via WM- Ticketing, über die beliebte Entwicklungshilfe - oder über Bin Hammam? Und sei es im Nachhinein, etwa 2002? Belegt ist jedenfalls, dass der Katarer mit Warner öfter Korruptionsmillionen ausgetauscht hat. Zehn Millionen Franken nach Katar. Ein Millionenvertrag für Warner. Das waren die Erblasten des deutschen Fußballs. Über Jahre packte sie niemand an, nur Theo Zwanziger mahnte 2012/'13 die alten OK-Kollegen zur Aufklärung, aber in einem anderen Kontext. Dann erhält der DFB im Mai 2015 einen Alarmruf aus der Fifa, wo just die Ermittler des FBI zugange sind. Den ganzen Sommer lang beschäftigt sich ein kleiner Zirkel um Niersbach und das alte Organisationskomitee mit den Merkwürdigkeiten von damals. Es geht um die Gala, die nie stattfand, um die 6,7 Millionen. Und es geht auch schon um den Warner-Vertrag, von dessen Existenz Niersbach, entgegen ursprünglicher Beteuerungen, spätestens ab 9.

Oktober weiß. Am 16. Oktober 2015 löst der Spiegel mit seiner Publikation zur Millionenschieberei 2005 eine Lawine aus. Niersbach unterrichtet das Präsidium per Telefonkonferenz - allerdings bei weitem nicht über all sein Wissen. Intern dringend angemahnt wird die Berichtspflicht; spätestens jetzt will der DFB, so stellt er es nach außen dar, größtmögliche Transparenz pflegen. Zugleich wird die Kanzlei Freshfields zwecks externer Ermittlungen eingesetzt.

Aber wird die totale Transparenz auch befolgt? Am 17. Oktober ruft Niersbach seine Vertrauten zur Telekonferenz. In einer vorbereitenden Mail seziert er ausführlich den Spiegel-Artikel. Zwei Absätze seiner Mail sind im Freshfields-Report dokumentiert, darunter diese Einschätzung zur Millionen-Schieberei: "Letztlich war es im Frühjahr 2002 (!!!) ein Privatdeal zwischen zwei mittlerweile verstorbenen Personen zu Gunsten der FIFA respektive des Präsidenten. Was ist, wenn diese Wahrheit herauskommt? Sollen wir forcieren, dass sie herauskommt?" Mit den Verstorbenen meint Niersbach Louis-Dreyfus und den Beckenbauer-Manager Robert Schwan.

Doch die Mail ist viel ausführlicher, sie liegt der SZ vollständig vor. Niersbach offenbart viel Detailwissen; so ist ihm schon bekannt, dass der Spiegel bezüglich des für die Millionen-Zahlung 2005 benutzten Zielkontos irrt. Und ganz offen bläst er zur Attacke auf den Mann, der intern als Nestbeschmutzer gilt: Ex-Verbandschef Zwanziger. "Medial wäre hinter den Kulissen vielleicht noch was gegen Zwanziger zu lancieren", schreibt er. "Irgendwelche Ideen?"

Aufschlussreich auch der 20. Oktober. Niersbach mailt: "Selbst wenn die ganze Wahrheit und damit auch herauskommt, dass ich bei dem ganzen Vorgang allenfalls Mitwisser war, dass ich zudem verspätet informiert habe - es bleibt dann ja auch die politische Verantwortung." Eine Bekenner-Mail? Freshfields publiziert sie gar nicht.

"Medial wäre hinter den Kulissen vielleicht noch was gegen Zwanziger zu lancieren"

Ein roter Faden führt durch diese Tage. Niersbach gibt früh sehr viel preis, bezeichnet sich gar als "Mitwisser". Und informiert sind darüber auch Personen, die heute die hauptamtliche Verbandsspitze bilden: Generalsekretär Friedrich Curtius, dessen Stellvertreter Ralf Köttker und Jörg Englisch, der Direktor Recht. Die Öffentlichkeit erreichten die heiklen Inhalte nicht, tagelang werden Niersbachs Rolle und die damaligen Abläufe anders dargestellt.

Erinnerung an eine "Schreckensherrschaft"

Eingedenk des Appells zu Transparenz und Niersbachs Rolle in dem Prozess: Müsste es für die Teilnehmer der Niersbach-Runde nicht eigentlich als Pflicht erscheinen, über all das auch das Trio zu informieren, das zunehmend die Dinge in die Hand nimmt: die Vize-Präsidenten Rainer Koch und Reinhard Rauball sowie Reinhard Grindel, damals noch Schatzmeister? Auf Nachfrage, ob das geschah, gibt es keine konkrete Antwort. Sondern nur ein allgemeines DFB-Statement: "Die Meldelinien innerhalb des DFB wurden von Herrn Curtius, Herrn Köttker und Herrn Englisch, die erst durch die Anfrage des Spiegels von den Vorgängen erfahren hatten, korrekt eingehalten." Die Kanzlei Freshfields, entlohnt mit einem höheren einstelligen Millionbetrag, teilt mit, sie sehe "keinen Anlass für weitere Kommentare" zu allen ihr gestellten Fragen.

Das ist auch bemerkenswert, weil Niersbach eine Anti-Zwanziger-Kampagne ansprach - "hinter den Kulissen". Tatsächlich geriet Zwanziger in den Medienfokus, er wurde vielfach attackiert. Der damalige Generalsekretär Helmut Sandrock erinnerte an dessen "Schreckensherrschaft", die zum Glück vorbei sei. Jetzt teilt der DFB dazu mit: "Der angedeutete Gedanke, etwas gegen eine einzelne Person zu lancieren, hat im DFB keine Unterstützung gefunden und der Verband distanziert sich deutlich von derartigen Überlegungen."

22. Oktober, weitere merkwürdige Vorgänge. Es ist der Tag, an dem Niersbach auf einer skurrilen Pressekonferenz profunde Ahnungslosigkeit beteuert und dem Land die angeblich frisch erlangte Erkenntnis darlegt, die zehn Millionen Franken seien eine Vorleistung an die Fifa gewesen, um retour einen Organisationszuschuss von 250 Millionen Franken zu erhalten. Kaum jemand glaubt die Story. Aber kurz nach der eher amüsanten Pressekonferenz werden beim DFB nach SZ-Informationen Dateien gelöscht - der Vorgang soll mehr als eine Stunde gedauert haben. Sollten heikle Dokumente vernichtet werden? Der DFB sagt dazu, dass seiner Spitze der Vorgang gar nicht bekannt sei. Freshfields will sich auch dazu nicht äußern. Vermerkt im Schlussbericht ist die Löschung nicht.

Da verwundert wenig, dass auch das Herzstück dieser Affäre eine selektive Transparenz umgibt: den Warner-Vertrag und den Umgang mit diesem dramatischen Fund - schon ab Oktober 2015.

Niersbach ist am Morgen jenes 9. November, seinem letzten Amtstag, guter Dinge auf dem Weg in DFB-Sitzungen. Doch dann nimmt ihn die neue DFB-Spitze zu einer "Unterredung" beiseite. An deren Ende steht der Rücktritt, Niersbach übernimmt "politische Verantwortung". Dafür belobigt ihn die neue Verbandsspitze sehr, auch belässt sie ihn in allen internationalen Ämtern (die Funktionen beendete erst Monate später das Fifa-Ethikkomitee).

Die neue DFB-Führung kannte den Warner-Vertrag schon eine Woche vor Niersbachs Rücktritt

Jedoch war der Vertrag damals intern viel länger bekannt als bisher von der Öffentlichkeit angenommen. Freshfields-Ermittler entliehen bereits am 22. Oktober einen Ordner, in dem sich eine Kopie befand. Am 28. Oktober übergab ihnen die DFB-Archivarin das Dokument noch einmal; Freshfields informierte am gleichen Tag die spätere Interimsspitze darüber "vertraulich", teilt der DFB nun mit. Eine Verschwiegenheitserklärung habe gegolten, zugleich hätten die Topfunktionäre aber auf eine zügige Unterredung mit Niersbach gedrängt. Zu der kam es erst am 5. November.

An diesem Tag habe Niersbach "den Eindruck erweckt, den Sachverhalt nicht zu kennen". Am selben Tag kommt es dann auch zu einer Ergänzung des Arbeitsauftrages an Freshfields, der sich ursprünglich allein um die 6,7 Millionen-Euro-Frage drehte. Als die Interims-Spitze dann am 9. November von Freshfields erfährt, dass der Vize-Generalsekretär Stefan Hans seinen Präsidenten Niersbach wohl schon viel früher über die Existenz des Warner-Vertrags informiert hat, gibt es die - erneute - Unterredung. Es folgt der Rücktritt.

Diese Version wirft ein neues Licht auf die damaligen Ereignisse. Danach ist nicht mehr die jähe Erkenntnis, dass es einen Warner-Vertrag gibt, maßgeblicher Grund für Niersbachs Rücktritt. Sonst hätte er spätestens nach der ersten Konfrontation mit dem Dokument gehen müssen. Sondern es war der Umstand, dass er lange bestritten hatte, dass ihm das Papier bekannt war. Wenn aber eine Verschleierung der Grund war: Was gab es zu belobigen an der dann ja unvermeidlichen Amtsniederlegung des Mannes, der so wenig zur Aufklärung beitrug? Warum durfte er Deutschland international weiter vertreten?

Vier Monate nach Niersbachs Rücktritt legten DFB und Freshfields den Abschlussreport vor. Nur Tage zuvor waren die genauen Bewegungsabläufe der Millionenzahlung nach Katar im Jahr 2002 aufgetaucht, es lief über Konten von Beckenbauer und Louis-Dreyfus. So hatte die Untersuchung eine verdienstvolle Erkenntnis; und ein Thema, das die Nation beschäftigte.

Der Warner-Vertrag geriet derweil immer tiefer ins Vergessen. Und Niersbachs hartnäckige Warner-Amnesie spielt im Bericht kaum eine Rolle, so wenig wie seine anderen Aktivitäten, von der Mitwisser-Mail bis zur Medien-Attacke. Dass die Nachfolger nie thematisiert haben, dass sie Niersbach erst in die Enge treiben mussten, auch nicht nach dem 9. November, stärkt nicht den Eindruck, den die Beteiligten gern erwecken: dass bei der Freshfields-Aufklärung tatsächlich strikte Transparenz gepflegt wurde. Und dass das Sommermärchen nicht gekauft war.

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