WM-Achtelfinale:England kämpft gegen die Elfmeter-Paranoia

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Hätte beim Elfmeterschießen eine Hauptrolle sicher: Englands Torwart Jordan Pickford. (Foto: REUTERS)
  • Im Achtelfinale gegen Kolumbien könnte es für England auch zu einem Elfmeterschießen kommen.
  • Die Fußball-Nation wird von schlimmen Erinnerungen an den Shootout geplagt und bereitet sich vorsichtshalber akribisch vor.
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Von Sven Haist, Moskau

Die Paranoia hat bei England wieder eingesetzt. Als ob es beschlossene Sache sei, dass die Three Lions während der WM in Russland mindestens ein Elfmeterschießen zu absolvieren haben, bereitet sich die Nationalmannschaft in den vergangenen Wochen zielgerichtet darauf vor. Vielleicht liegt es an der Statistik: Seit Einführung der Regelung zur EM 1976 gab es 46 Elfmeterschießen. In sieben, drei davon bei Weltmeisterschaften, war England involviert - und verließ das Spielfeld hinterher nur einmal als Gewinner. Eine schlechtere Bilanz besitzt keine andere Nation.

In der Times waren neulich alle zwölf bisherigen englischen Fehlschüsse abgebildet: Zwei Bälle flogen übers Tor (Chris Waddle, WM 1990; David Beckham, EM 2004), einer prallte an die Latte (Ashley Young, EM 2012) und die restlichen neun Versuche wehrten jeweils die gegnerischen Torhüter ab. Dem einzigen Erfolg der Engländer, bei der Heim-EM 1996 gegen Spanien, folgte im Halbfinale umgehend das Aus vom Elfmeterpunkt gegen Deutschland. Mit rechts schoss Gareth Southgate den Ball nach links, in die Arme des deutschen Torwarts Andreas Köpke. Dieser Fauxpas hat Southgate über die Insel hinaus bekannt gemacht. Zwischen Ballhinlegen und Ausführung lagen bloß sechs Sekunden, womöglich, um die Angelegenheit schnell hinter sich zu bringen.

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Von Dirk Gieselmann

Als englischer Nationaltrainer versucht Southgate, 47, nun sein persönliches Schicksal aus elf Metern zu bewältigen - indem er sicherstellen möchte, dass England einfach nie wieder ein Elfmeterschießen verliert. Ein Analyseteam bekam den Auftrag, die bisherigen Duelle auf ein Allheilmittel für den Erfolg zu untersuchen. Die Fachleute sind dabei zum Ergebnis gekommen, dass sich die Engländer bei der Ausführung im Vergleich zu ihren internationalen Kollegen weniger Zeit nehmen. Nach den meisten Trainingseinheiten finden deswegen Elfmeterschießen statt, bei denen die Spieler - angestrengt durch die Einheit zuvor - von der Mittellinie aus losgehen müssen, um sich an den Ablauf zu gewöhnen.

Vor der Abreise ins Quartier nach Repino gab es für die Kaderspieler gar psychometrische Tests, die Aufschluss bringen sollten, wer im Zweifel über die größten nervlichen Kapazitäten in Stresssituationen verfügt. Beim Golf auf der Playstation duellieren sich die Spieler ständig beim Putten in zwei Fünfergruppen und erschweren sich das Einlochen gegenseitig mit Ablenkungsmanövern. "Der Shootout ist definitiv kein Glück und auch kein Zufall. Es geht darum, die Fähigkeit zu haben, unter Druck abzuliefern", sagt Southgate.

Nichts unversucht zu lassen, um das Mutterland des Fußballs zu alter Größe zurückzuführen, ist zu einem wesentlichen Merkmal seiner Amtszeit geworden. Seit Herbst 2016 hat Southgate die Mannschaft umgebaut, nun hat er sie ins Achtelfinale geführt. Am Dienstag trifft England in Moskau auf Kolumbien, mit einem Sieg würde England das erste Viertelfinale bei einem Turnier seit zwölf Jahren erreichen. Für Southgate ist es wohl das bisher wichtigste Spiel seiner Trainerkarriere, weil es Aufschluss darüber geben wird, ob er mit seinen Umstrukturierungen das richtige Gespür bewiesen hat. Im finalen Gruppenspiel tauschte er fast die gesamte Startelf aus, um einigen Spielern nach dem bereits geschafften Einzug in die nächste Runde eine Schaffenspause zu geben. Das könnte seine junge und gemessen an Länderspieleinsätzen unerfahrene Mannschaft aber aus dem Spielrhythmus gebracht haben.

Mit der Entscheidung, verdienstvolle Spieler um Kapitän Wayne Rooney zu verabschieden, hat Southgate wiederum einen Prozess der Selbstreinigung im Team ausgelöst. Wo sich die Spieler früher gefühlt mehr untereinander bekämpften als gemeinsam den jeweiligen Gegner, besitzt England eine Mannschaft, die im wahren Wortsinn auch eine Mannschaft ist. An Regenerationstagen wetteiferten einige Profis bereits im Hotelpool auf Einhörnern, wer am schnellsten das Ufer auf der anderen Seite des Schwimmbeckens erreicht. Am Samstag machten sich fünf Spieler auf zu einem Vergnügungspark in Sankt Petersburg und fuhren Achterbahn. "Bei uns gibt es keine Zankerei. Wir sind wie eine Familie. Wir kommen alle gut aus, und das ist der Grund, warum wir so gut sind", sagt Spielmacher Jesse Lingard.

Der Zusammenhalt im Team gilt als eine der Stärken - neben der akribischen, fast wahnhaften Vorbereitung. Das Trainerteam soll bereits die fünf Schützen für ein mögliches Elfmeterschießen gegen Kolumbien ausgewählt haben. Die Sunday Mail schrieb, dass es sich dabei um Harry Kane, Kieran Trippier, Jordan Henderson, Jamie Vardy und Dele Alli handele, sofern die alle auf dem Platz stehen. Die Ironie beim Bohei um ein paar Torschüsse aus elf Metern? Die jüngste Generation englischer Nationalspieler hat bislang noch überhaupt kein Elfmeterschießen absolviert.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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