Das Verhältnis zwischen Chile und Bolivien ist verbesserungswürdig, spätestens seit dem 1879 ausgebrochenen Pazifikkrieg, der unter anderem dazu führte, dass Bolivien zum Binnenland wurde und seinen Zugang zum Meer verlor. In chilenischen Fußballstadien wurde daran bei Visiten bolivianischer Fußballmannschaften gerne mit großer Häme erinnert; unter anderem auch deshalb, weil derlei als gefahrloses Unterfangen galt.
Denn Erfolgsaussichten bolivianischer Berufsfußballer gelten in Südamerika allgemein nur dann als begründet, wenn sie in „ihrem Basecamp auf dem Mount Everest“ spielen, wie ein chilenischer TV-Kommentator am Dienstag meinte. Das war eine von Bitternis getragene, wahrheitswidrige Behauptung: Bolivien trägt seine Heimspiele zwar traditionell in beträchtlicher Höhe aus – rund 4000 Meter über dem Meeresspiegel –, aber auf einem Sportplatz, der in den Anden liegt, genauer: in La Paz, und nicht im Himalaja. Und die Bitternis schwang deshalb mit, weil es an diesem Tag im Nationalstadion von Santiago de Chile zu einer Ausnahme von historischen Dimensionen kam: Bolivien gewann mit 2:1.
Dieser Erfolg beendete eine seit 1993 andauernde Serie siegloser Auswärtsspiele Boliviens in der WM-Qualifikation – und stellte Boliviens ersten Pflichtspielerfolg auf chilenischem Boden dar. „Triunfazo“, befand die bolivianische Zeitung La Razón, mit einer Steigerungsform des Worts Triumph. Im langen Land hingegen machte das Verdikt „Schande“ die Runde – das Echo reichte von Arica bis Magallanes, von der Atacama-Wüste bis zum südlichsten Zipfel Patagoniens.
Nächste Bewährungschance für Chile: ausgerechnet gegen Brasilien
Es hatte deshalb einen solchen Hall, weil die Chilenen sich schon nach acht von 18 Spieltagen darauf einstellen können, die WM 2026 womöglich genauso verfolgen zu müssen wie die WM 2022: an den TV-Geräten. Was schon eine Leistung ist, denn sechs von zehn südamerikanischen Teams qualifizieren sich direkt für das Turnier in Nordamerika. Aus dem Off stänkerte der frühere Bayer-Profi Arturo Vidal, einer der Vertreter der Goldenen Generation, die Chile 2015 und 2016 zu Copa-América-Titeln führte, er hätte „nie“ den kürzlich zum Nationaltrainer bestellten Argentinier Ricardo Gareca verpflichtet. Das war im Ton eleganter als eine wenige Tage alte Einlassung, wonach Gareca ein „huevón“ sei. Je nach Intonierung lässt sich das als „Kerl“, „Eierschädel“ oder euphemistisch als „Volldepp“ übersetzen.
Gareca ließ die eindeutig ehrabschneidend gemeinte Suada von Vidal über sich ergehen; gegen das Prädikat „Schande“ aber wehrte er sich, man habe den Fußball nicht entehrt. Er wies überdies die Unterstellung bolivianischer Medien zurück, die chilenische Mannschaft habe das Fairplay missachtet.
Der Verdacht entstand, weil der einstige Hoffenheim-Flop Eduardo Vargas den Ausgleich erzielt hatte, als Boliviens Torwart, Carlos Lampe, sich verletzt am Boden krümmte. Vargas habe gedacht, der Keeper sei ausgerutscht und habe deshalb weitergespielt, Vargas habe ja nicht ahnen können, dass Lampe sich die Achillessehne gerissen habe, wetterte Gareca. Andererseits: Zwecks Vermeidung eines neuerlichen, symbolischen Pazifikkriegs war es vermutlich gut, dass Carmelo Algarañaz auf Vorlage des Führungstorschützen Miguelito noch in der zweiten Halbzeit das Siegtor erzielte.
Die nächste Bewährungschance bietet sich für Gareca und Chile im Oktober, wenn Brasiliens Team nach Santiago reist. Dann wird sich herausstellen, ob es gut oder schlecht ist, dass auch der fünfmalige Weltmeister in der Krise steckt; vielleicht auch, was es wert ist, wenn Brasiliens Coach Dorival Jr. behauptet, seine Mannschaft werde 2026 im WM-Finale stehen. Am Dienstag setzte es jedenfalls in Paraguays Hauptstadt Asunción ein 0:1 (0:1) – und damit die vierte Pleite der Brasilianer in der laufenden Qualifikationsrunde, Diego Gómez traf per Traumtor. Brasilien ist Tabellenfünfter der Südamerikagruppe, punktgleich mit der Baseball-Nation Venezuela und mit nur einem Zähler mehr als Paraguay und Bolivien.
Eine Niederlage nahm übrigens auch Weltmeister Argentinien hin, bei einer Neuauflage des diesjährigen Copa-América-Finales gegen Kolumbien. In Abwesenheit von Lionel Messi strahlte in Barranquilla vor allem Kolumbiens Zehner James Rodríguez: Der frühere Bayern-Profi legte die Führung auf und erzielte nach dem zwischenzeitlichen Ausgleichstreffer durch den ehemaligen Stuttgarter Nico González per umstrittenen VAR-Elfmeter den Siegtreffer. „Sie sind menschlich“, stellte das Sportblatt Olé nach der Pleite des Weltmeisters fest, gab sich ansonsten aber ungerührt: Argentinien steht mit 18 Punkten recht ungefährdet an der Spitze der Tabelle.