Niederlande im WM-Viertelfinale:Van Gaals Erfolgsplan: Abwehr totaal

Niederlande im WM-Viertelfinale: Wenn Virgil van Dijk (re.) gegen das US-Team um Christian Pulisic (Mitte) nicht mit dem Kopf klärte, klärte er eben mit dem Fuß.

Wenn Virgil van Dijk (re.) gegen das US-Team um Christian Pulisic (Mitte) nicht mit dem Kopf klärte, klärte er eben mit dem Fuß.

(Foto: Martin Meissner/AP)

Die USA bräuchten Captain America, die Niederlande hat Louis van Gaal. Mit seiner Defensivtaktik wählt der Bondscoach die richtige Strategie gegen die US-Boys und steht im WM-Viertelfinale.

Von Martin Schneider, al-Rayyan

Vielleicht wunderte sich Denzel Dumfries, wie frei er gerade war. Hinter ihm niemand, rechts und links niemand, vor ihm erst recht niemand. Ungewöhnlich, dachte er sich womöglich, schließlich ist das hier die 81. Minute des WM-Achtelfinales gegen die USA und ich stehe immerhin im gegnerischen Sechzehner. Nachdem er sich fertig gewundert hatte, die Zeit hatte er nämlich, hob er den Arm, Daley Blind bemerkte ihn, die Flanke kam und Dumfries nutzte die Freiheit, die ihm das "Land of the free" gewährte, zum entscheidenden 3:1. Der Stadion-DJ legte nach Schlusspfiff zum Aus der Amerikaner "Auld lang syne" auf.

Louis van Gaal und die Niederlande stehen also im WM-Viertelfinale. Wobei, eigentlich muss es korrekt heißen: stehen dank langweiligem Fußball im WM-Viertelfinale, aber das würde van Gaal erzürnen und van Gaals Zorn ist groß, deswegen ist es besser, das nicht zu schreiben. Trotzdem gab es nach der Gruppenphase in den Niederlanden eine Diskussion, ob van Gaals Fußball, na ja, aufregend genug sei für das Land des Voetbal totaal.

Van Gaal reagierte auf seine Art. "Das ist Ihre Meinung, aber ich denke nicht, dass Ihre Meinung die richtige Meinung ist", sagte er zu einem Journalisten, der ihn auf einer Pressekonferenz vor dem USA-Spiel mit dem Vorwurf der Langeweile konfrontierte. "2014 war es exakt dasselbe. Es war sehr negativ. Jetzt passiert es wieder. Ich bin daran gewöhnt und meine Spieler auch. Wir gehen ruhig unseren Weg weiter", sagte der Bondscoach.

Oranje spielt 20 Pässe vor dem 1:0

2014 bei der WM in Brasilien brachte van Gaals Defensiv-Fußball mit der tiefen Fünferkette das Team bis ins Halbfinale, er war ein Elfmeterschießen vom Finale gegen Deutschland entfernt. Nun steht er wieder im Viertelfinale, natürlich auf seine Art. Die USA hatten mehr Ballbesitz (58:42), mehr Torschüsse (17:11), spielten mehr Pässe (471:316), aber wer die Partie gesehen hat, konnte nicht leugnen, dass der General einfach die richtige Taktik gewählt hatte.

Auch wenn das Spiel mit einer Riesenchance für die USA startete. Christian Pulisic, der nach seiner Beckenprellung rechtzeitig fit wurde, brach durch und stand nicht im Abseits. Der Ex-Dortmunder wurde vom Ex-Schalker Weston McKennie bedient, brachte den Ball nicht an Andries Noppert vorbei. Es sollte für sehr lange Zeit die letzte Chance der USA gewesen sein.

Die Niederlande stand tief, ließ die USA kommen und ihr eigener erster strukturierter Angriff war drin. Nach 20 Pässen, die meisten davon geduldig in der Fünferkette, setzte sich Denzel Dumfries auf der Außenbahn durch und fand im Rückraum den freistehenden Memphis Depay, der zur Führung traf. Depay, lange verletzt und in Barcelona kein Stammspieler mehr, weil ein gewisser Robert Lewandowski dort die Sturmposition besetzt, spielte erst zum zweiten Mal bei dieser WM überhaupt von Anfang an. Van Gaal hatte immer betont, dass Depay zum Einsatz käme, sobald er fit sei.

Niederlande im WM-Viertelfinale: Weitgehend alleine: Denzel Dumfries beim Treffer zum 3:1-Endstand.

Weitgehend alleine: Denzel Dumfries beim Treffer zum 3:1-Endstand.

(Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Nach der Führung stellte die Niederlande jede eigene Beteiligung am Spiel ein. Wer Spaß an gut organisierten Fünferketten hat, für den war das Oranje-Spiel alles andere als langweilig, aber wer hat das schon? Dennoch bestand kein Zweifel, dass van Gaals Team das Spiel komplett im Griff hatte. Die USA waren mit ihrem eigenen Spielaufbau überfordert, McKennie, Yunus Musah und auch der bei dieser WM so überzeugende Timothy Weah, Sohn des ehemaligen Weltfußballers und heutigen liberianischen Präsidenten George, verfingen sich immer wieder im niederländischen Netz. Es sah aus, als würden sie in orangenen Pudding boxen und Virgil van Dijk war im Herz der Kette der unumstrittene Puddingchef. Die USA hätten eigentlich Captain America oder einen anderen ihrer zahlreichen Superhelden gebraucht, umso erstaunlicher, dass Trainer Greg Berhalter zunächst sogar auf zwei seiner Besten verzichtete, den Dortmunder Gio Reyna und Brenden Aaronson von Leeds United.

Wie wenig passierte, sieht man auch daran, dass es später nur eine Minute Nachspielzeit geben sollte. Das Spiel dümpelte dermaßen vor sich hin, dass schon ein Weah-Sprint das fast komplett stille Khalifa-Stadion aufweckte. Wieder wach waren alle, als er in der 43. Minute endlich mal aus der Distanz schoss, Noppert parierte. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn Sergino Dest kurz danach nicht gedribbelt, sondern auch draufgehalten hätte. Stattdessen schoss Oranje kurz vor der Pause das gleiche Tor einfach nochmal. Dumfries spielte wieder in den Rückraum - nur diesmal versenkte Daley Blind. Fast sah es so aus, als würde diese Mannschaft von einem erfahrenen Taktiker trainiert. "Ich denke, bei den Toren hat man jeden Aspekt unseres Spielsystems gesehen", sagte Dumfries nach dem Spiel. Er wurde zum Spieler des Spiels gewählt und als ein Journalist fragte, wie wichtig Dumfries für das Team sei, bekam er von seinem Trainer auf der Pressekonferenz einen Kuss.

"Unser Spiel gegen den Ball gibt uns Selbstvertrauen, unser Spiel mit dem Ball müssen wir verbessern", lautete van Gaals Analyse. "Ich war nach der ersten Halbzeit sehr kritisch mit meinen Spielern, auch wenn wir 2:0 geführt haben. Wir haben den Ball zu oft verloren, das müssen wir verbessern." Glücklich war er dagegen mit den Toren. "Wenn der eine Außenspieler auf den anderen Außenspieler spielt und umgekehrt - das ist einfach wunderschön", sagte van Gaal und meinte damit, dass erst Dumfries auf Blind und dann Blind auf Dumfries spielte.

Fünf aufregende Minuten gegen die Langeweile

Die niederländische Souveränität verließ das Team Anfang der zweiten Halbzeit nur ganz kurz, Tim Ream, mit 35 Jahren quasi der Granddad des Teams, scheiterte nach einer Eck an Cody Gakpo, der auf der Linie rettete. Im Gegenzug provozierte der eingewechselte Steven Bergwijn fast ein Eigentor. Danach versank das Spiel wieder im Halbschlaf, alle Freistoßflanken der USA köpfte van Dijk fachgerecht aus dem Sechzehner, nach einer Stunde schoss Depay mal wieder über das Tor.

Das Gegentor fiel, wie es fast nur fallen konnte: nach einem individuellen Patzer. Der starke Pulisic setzte zum gefühlt hundertsten Mal zum Sprint an, kam einmal durch, passte in die Mitte, wo Haji Wright den Ball mehr mit der Hacke abfälschte, als aufs Tor brachte, aber Dumfries und Noppert behinderten sich gegenseitig, sodass die Kugel ins Tor fiel. Plötzlich war auch das Stadion wieder da, die Amerikaner, klar in der Mehrzahl, donnerten die drei Buchstaben ihres Landesnamens durch das Stadion. Es waren aufregende fünf Minuten, bis Denzel Dumfries schließlich das Spiel entschied.

Für die USA ist das Aus keine Katastrophe, auch wenn Pulisic nach dem Abpfiff minutenlang auf dem Rasen lag und saß und von seinen Teamkollegen getröstet werden musste. Die Amerikaner traten mit der zweitjüngsten Mannschaft des Turniers an, Schlüsselspieler wie Pulisic (24 Jahre), Weah (22), McKennie (24) oder die eingewechselten Aaronson (22) und Gio Reyna (20) sollen ihren großen Auftritt in vier Jahren haben. Bei der WM in den USA.

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