Harry Kane vor dem Duell mit Frankreich:Englands echtfalscher Neuner

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Wuchtig und nahe an der Perfektion: Harry Kanes erster Turniertreffer im Achtelfinale gegen Senegal. (Foto: Carl Recine/Reuters)

Früher war Harry Kane ein reiner Torjäger, inzwischen hat der englische Nationalspieler seine Rolle neu definiert. Das macht ihn für Viertelfinalgegner Frankreich schwer berechenbar.

Von Sven Haist, al-Wakra

An der Schusshaltung von Harry Kane hat sich im Lauf seiner Karriere fast nichts verändert. Vor einigen Tagen ging in England ein Foto des Angreifers viral, das ihn als Schuljungen auf dem Pausenhof zeigt, wie er mit dem rechten Fuß ausholt, um einen Tennisball zu treffen. Seine Körperhaltung sieht einem aktuellen WM-Bild verblüffend ähnlich - fast als hätte er die Szene für ein Fotoshooting gezielt nachgestellt. Nur dass Kane inzwischen ein ganzes Stück größer geworden ist.

Damals wie heute fällt auf, wie nahe Kanes Bewegungsablauf in punkto Koordination, Stabilität und Genauigkeit an die Perfektion heranreicht. Auf beiden Fotos setzt er zum Vollspannstoß an. Kanes linkes Standbein befindet sich neben dem Ball und zeigt in Spielrichtung. Ober- und Unterschenkel des Schussbeins bilden einen rechten Winkel. Das Sprunggelenk ist fixiert, die Fußspitze senkrecht zum Boden gestreckt. Die ganze Haltung gleicht einer Skizze aus dem Techniklehrbuch. Unermüdlich hat Kane den Ablauf über die Jahre präzisiert, bis er für ihn wie Autofahren zur Routine wurde.

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Während ihm die meisten Fußballfans bei seinen Toren auf die Füße schauen, lohnt sich bei Kane auch der Blick auf seine Armhaltung. Eine extreme Ausholbewegung verschafft ihm zusätzliche Dynamik, die er über Rumpf und Schussbein auf die Beschleunigung des Balls überträgt. Auf diese Weise, also wuchtig per Vollspann, erzielte Kane sein bisher einziges Turniertor für England beim Achtelfinalerfolg über Senegal. Er schoss den Ball aus zwölf Metern flach und präzise ins Tor - so hart, dass er danach Mühe hatte, den Schwung auszubalancieren. Ihm fehlt jetzt nur ein Treffer, um mit den 53 Toren des englischen Rekordschützen Wayne Rooney gleichzuziehen.

Ob mit Tottenham oder dem Nationalteam - auf einen großen Triumph wartet Kane immer noch

Die erste Gelegenheit dazu bietet sich am Samstagabend beim Duell mit Frankreich, dem Weltmeister von 2018. Falls Kane die Engländer ins Halbfinale und anschließend zum Titel schießt, würde sich der Rekordtreffer von all seinen anderen 329 Pflichtspieltoren gewaltig abheben - denn keines führte bisher zu einem Titelgewinn. Obwohl Kane mit seinem Verein Tottenham Hotspur und der Nationalelf mehrmals knapp davor stand, reichte es nie für einen solchen Triumph. Immer wieder Zweiter, das verfolgt Kane, mindestens so sehr wie die wiederkehrenden Transfergerüchte um ihn.

Zurzeit deuten seine Aussagen an, dass er sein bis zum 30. Juni 2024 bei Tottenham datiertes Arbeitspapier unberührt lässt. Das würde den Druck auf seinen Klub erhöhen und ihm alle Möglichkeiten offenlassen: vorzeitiger Wechsel im Sommer 2023, ablösefreier Wechsel ein Jahr später - oder doch eine Vertragsverlängerung in Tottenham.

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Um sich in Position zu bringen für die wichtige Karriereentscheidung, hat Kane, 29, sein Profil über das eines Torjägers hinaus erweitert. Dies steht unmittelbar im Zusammenhang mit der Kategorisierung von Mittelstürmern, die seit geraumer Zeit entweder als echte oder falsche Neuner deklariert werden. Nach diesem Denkmuster gehörte Kane zu Beginn seiner Karriere den echten Neunern an. Er war auf eigenen Torerfolg aus und lauerte auf Höhe des letzten Verteidigers auf seine Chance. Diese Fähigkeit hat sich Kane bewahrt: Auch in dieser Spielzeit weist seine Bilanz beachtliche zwölf Tore in 15 Ligaspielen aus. Er trifft mit rechts, mit links und mit dem Kopf, aus kurzer und großer Distanz. Nur Erling Haaland traf für Manchester City mit 18 Premier-League-Toren öfter.

Für Ronaldo geht es nur noch um eigene Tore, Messi gefällt sich als Spielgestalter - Kane ist gerade auf einem Mittelweg unterwegs

Doch auf Torjägerqualitäten allein will sich Kane nicht mehr verlassen. Schon länger arbeitet er an der Verbesserung seines Spielverständnisses, vermutlich weil er weiß, dass ihm Geschwindigkeit und Ausdauer mit dem Alter abhandenkommen werden und er nicht auf Dauer einen Schritt schneller sein wird als seine Gegner. Acht Sprunggelenksverletzungen tun ihr Übriges dazu - auch bei dieser WM hatte er schon mit dem rechten Knöchel zu kämpfen. Wobei Kane nie länger als sieben Wochen am Stück ausfiel und zur Behebung dieser Schwachstelle einen Spezialisten engagiert hat.

Kane lässt sich nun öfter nach hinten fallen und nimmt am Kombinationsspiel seiner Mannschaften teil. Wie kaum ein anderer englischer Angreifer versteht er es, den Ball abzuschirmen und weiterzuleiten. Damit dient er sowohl als Anspielstation als auch als Lockmittel für Gegenspieler, ihm aus der Abwehr zu folgen - wodurch vorne Freiräume für seine Mitspieler entstehen. In vier WM-Partien kommt England auf acht verschiedene Torschützen, den Höchstwert in der eigenen Turnierhistorie zu diesem Zeitpunkt. Bei drei Treffern assistierte Kane, er zählt zu den führenden Vorlagengebern.

So versucht er, in gewisser Weise das Beste aus zwei Welten zu vereinen, gemessen an der Art, wie verschieden die Offensivstars Lionel Messi und Cristiano Ronaldo mit dem Verlust ihrer Dynamik bei dieser WM umgehen. Für Letzteren geht es nur noch um eigene Tore. Wenn er sie nicht schießt, fällt es schwer, eine angemessene Verwendung für ihn zu finden - weshalb ihn Portugals Trainer Fernando Santos zuletzt aus der Startelf strich. Messi wiederum hat für Argentinien seine Rolle als offensiver Spielgestalter gefunden, im Fachjargon also als falsche Neun.

Für die Engländer ist Harry Kane gewissermaßen: ein echtfalscher Neuner. Er spielt zwei Positionen in einer. Auch gegen Frankreich wird er in der Doppelrolle gebraucht - als neuer Vorlagengeber und alter Torjäger.

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