Süddeutsche Zeitung

Argentinien im WM-Viertelfinale:Die Nachricht des Abends lautet: Messi

Die Argentinier spielen gegen Australien keineswegs brillant, erreichen durch ein 2:1 aber das Viertelfinale - weil Lionel Messi sich zum großen Herrscher des Spielfelds aufschwingt.

Von Javier Cáceres, Doha

In einem Ambiente, das am Silberfluss kaum argentinischer hätte sein können, hat die Albiceleste am Samstag bei der WM in Katar das Viertelfinale erreicht. Im 1000. Pflichtspiel von Kapitän Lionel Messi, 35, besiegte Argentinien die lange Zeit überforderten Australier mit 2:1. Den Sieg ebnete Messi mit seinem ersten Tor in einer WM-K.-o.-Runde überhaupt. Im Viertelfinale kommt es zu einem Clásico, der für hohe Fußballkunst steht: Argentinien trifft am Freitag zum sechsten Mal nach 1974, 1978, 1998, 2006 und 2014 bei einer WM auf die Niederlande.

Das Spiel vom Samstag fand im Ahmed-bin-Ali-Stadion in Doha statt. Doch für die Dauer eines Abends verwandelte es sich in eine Bombonera oder ein Monumental, wie die Stadien von Boca Juniors und River Plate in Buenos Aires heißen. Die Tribünen waren fest in genuin argentinischer Hand: frei von Fake-Fans. Vor den Stadiontoren gab es sogar so etwas wie Schwarzmarkt: Argentinische Fans versuchten, Australiern ihre Tickets abzuschwatzen. Und diejenigen, die es ins Innere schafften, sprangen auf und ab wie daheim. Die Statik des Stadions hielt dem rhythmischen Auf und Ab der Anhänger stand. Doch die Nachricht war: Messi.

Man kann ihn Hunderte Male gesehen haben. Er bleibt faszinierend. Eine gute halbe Stunde lang verwirrte er das eigene und das australische Personal, weil er nicht nur auf dem Platz spazieren zu gehen schien, sondern auch noch drei Fehlpässe in Serie spielte. Dann beging Australiens Linksverteidiger Aziz Behic einen Fehler: Er reizte die fußballerische Bestie, die in Messi steckt. Nach einem Zweikampf standen sich Behic und Messi so nah und so aufreizend gegenüber, Stirn an Stirn, dass sie die Zahnpasta-Marke ihres Gegenübers hätten erraten können. Dann leistete sich Behic ein Foul in Nähe der Eckfahne, und Messi entfesselte eine Aktion, die Argentiniens Führung gebar. Messi bediente Alexis MacAllister, MacAllister spielte Nicolás Otamendi im Strafraum an, und der ließ den Ball für den heranstürmenden Messi abprallen. Zwei Bewegungen danach war der Ball im Tor. Denn Messi zielte von halbrechts flach an den sogenannten langen Pfosten (35.).

Mit dem Messi-Tor wirft Argentinien auch Ballast ab

Argentinien war mit gehöriger Selbstsicherheit ins Spiel gegangen, sie war vielleicht größer als bei allen vorangegangenen Partien dieser WM. Aber: Gegen Australier, die mit dem Ball nicht so viel anzufangen wussten und sich daher auf die Defensive kaprizierten, mangelte es trotz hohem Ballbesitz an Pässen in die Tiefe und echten Torgelegenheiten. Insofern warf Argentinien mit dem Messi-Tor auch Ballast ab. Denn jede Minute, die verging, war ein kleines Steinchen im Päckchen, das Argentinier bei einer WM zu tragen haben. Es ist voller Erwartungen.

In der zweiten Halbzeit geschahen zwei Unfälle, die ein Spiel, das entschieden zu sein schien, doch zu einem Drama machten. Argentiniens große Sturmhoffnung Julián Álvarez traf zum zwischenzeitlichen 2:0. Australiens Torwart Mathew Ryan versuchte sich an einem Dribbling am eigenen Fünfmeterraum, was keine sonderlich gute Idee war. Der diesmal überzeugende Rodrigo de Paul setzte ihn unter Druck, Álvarez sprang hinterher, bekam den Ball unter Kontrolle und schob ihn ins leere Tor. Ryan verfluchte sich selbst, als er den Ball aus dem Netz holte. Danach machten es sich die Argentinier eine Spur zu bequem. Und ohne genau zu wissen, warum, kamen die Australier zum Anschlusstreffer: Der bis dahin gut aufspielende Enzo Martínez fälschte einen Schuss von Behic ins eigene Tor ab, Torwart Dibu Martínez hatte keine Gelegenheit, zu reagieren. 1:2! Wenige Minuten danach hatte ausgerechnet Behic nach einem Solo übers halbe Feld die Chance, auszugleichen. Doch der eingewechselte Lisandro Martínez blockte den Schuss mit einer grandiosen Grätsche, bei der er quer durch den halben Strafraum zu fliegen schien.

Erst danach schafften es die Argentinier, die Schocks zu überwinden. In den letzten zehn Minuten war Messi wieder der große Herrscher des Spielfelds - und fabrizierte unter anderem eine Großchance für Lautaro Martínez. Doch anstatt das Spiel mit einem weiteren Treffer zu entscheiden, zog er den Ball deutlich übers Tor. Vier Minuten später scheiterte er wieder, als er allein vorm Tor stand -und beschwor damit fast eine Tragödie herauf. Denn in der 97. Minute flog eine Flanke zu Australiens Alou Kuol, der im Strafraum einen Drehschuss aufs Tor jagte. Die Rettungsaktion von Torwart Martínez war derart unglaublich, dass Fernández und Exequiel Palacios ihn in ihrem Jubel unter sich begruben.

Auf den Rängen feierten die argentinischen Fans, die es sich in Katar heimisch gemacht haben - und das Stadion nicht verlassen wollten. "Veni, vení/cantá conmigo", sangen sie, "komm her, komm her, sing' mit mir". Was genau? "Que de la mano/de Leo Messi/toda la vuelta vamos a dar ...": Sie meinen, dass sie "an der Hand von Leo Messi die ganze (Ehren-)Runde drehen werden." Nicht, dass Argentinien brillant gewesen wäre. Aber passieren kann das allemal.

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