WM 2018:Es wird Tränen bei den Nationalspielern geben

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Wer darf mit zur WM 2018? Die Startelf in Belfast. (Foto: Action Images via Reuters)

Der Bundestrainer hat für die WM einen personellen Reichtum wie nie zuvor. Doch das macht die Sache schwierig. Ein Schweinsteiger-Irrtum darf Joachim Löw diesmal nicht passieren.

Kommentar von Philipp Selldorf

Als vor der Europameisterschaft 2004 kurzfristig noch ein Platz im deutschen Kader frei wurde, hatte Teamchef Rudi Völler schnell eine Lösung zur Hand: Er bestellte Christian Ziege, 32, ins Teamquartier, der sich darüber doppelt freute. Erstens war er gerade auf Vereinssuche und brauchte Empfehlungen, weil ihm Tottenham Hotspur nach zwei Jahren ständiger Verletzungs-Absenz keinen Vertrag mehr geben wollte; zweitens hatte er von der Nationalmannschaft innerlich längst Abstand genommen, nachdem er dort seit Juli 2002 nicht mehr gespielt hatte. "Der Christian ist ein positiver Typ und tut unserer Mannschaft, die einen Tick zu ruhig ist, richtig gut", sagte Völler. Er hatte also einen im Grunde nicht mehr leistungssportfähigen Veteranen einberufen, um die Schlaftabletten in seinem Team aufzuwecken.

Ja, ja, das war vor Jahren in einer anderen, quasi prähistorischen Zeit. Aber hin und wieder lohnt die Erinnerung, wenn in der Gegenwart die Debatten in die falsche Richtung zu laufen drohen. Als der Bundestrainer jetzt zur deutschen Europapokal-Krise referierte und unter anderem in strengem Ton anmerkte, der Nachschub aus den Talentschulen der Bundesliga sei mitnichten so groß- und so einzigartig wie immer getan werde, da mag der Vor-Vorgänger Völler einen seiner bewährten "Mist-Käse-Scheißdreck"-Flüche gezischt haben. Jene Bundesliga-Spieler, die Löw heutzutage (mit Recht) ignoriert, die hätte Völler damals gern gehabt.

Löws Team gehört schon jetzt zum kleinen Kreis der Favoriten

Anderswo, ob in Frankreich, England, Spanien oder Südamerika, werden auch viele tolle junge Fußballer herangezogen, da hat Löw natürlich vollkommen recht. Das ist den Franzosen und Engländern allerdings weder als Unverschämtheit anzulasten noch ist es ein Grund zur Klage. Bisher ist nämlich keine Fifa-Vorschrift in Umlauf gebracht worden, wonach es lediglich dem deutschen Bundestrainer erlaubt ist, aus dem Vollen zu schöpfen. Und es steht Löw zwar zu, den Mangel an hochklassigen Außenverteidigern zu monieren (wie er es nun in Belfast getan hat). Aber er sollte darauf achten, dass solche Anmerkungen nicht wie Vorwürfe eines verwöhnten Genießers an seinen Hof-Lieferanten klingen. In diesem Fall: die Lieferanten aus der Bundesliga.

Die Wahrheit ist, dass es im nächsten Sommer viele Tränen geben wird und so mancher Spitzenspieler, der jetzt noch nichts davon ahnen möchte, bitter leiden muss, sobald der Bundestrainer das Aufgebot für Russland bekannt gibt. Dieses Aufgebot darf nur 23 Namen umfassen, es stehen aber wenigstens noch mal so viele Leute vor der Tür und verlangen ebenfalls mitzufahren. Darum ist Löw nicht zu beneiden: dass er so viele Spieler enttäuschen muss.

2016 hat er seiner Neigung zur Loyalität nachgegeben

Zudem muss er sich damit abfinden, dass sein Team höchste Erwartungen im Publikum weckt. Deutschland ist nicht der WM-Favorit, weil das dem Titelverteidiger automatisch auferlegt wird. Sondern weil die Mannschaft dank ihrer Vielfalt in Abwehr, Mittelfeld und Angriff die Substanz zum Favoriten hat. Brasilien, Spanien, Frankreich, in dieser privilegierten Gesellschaft bewegen sich die Deutschen.

Bei seinem sechsten Einsatz als Turniercoach überblickt Löw einen personellen Reichtum wie nie zuvor. Das macht die Sache für ihn so schwierig und die Trainerarbeit umso wichtiger. Nicht nur bei der Bestimmung der 23 Auserwählten ist Löw besonders gefordert, sondern auch bei der Konzeption für einen sehr engen Wettbewerb. Bei der EM 2016 hat er seiner Neigung zur Loyalität nachgegeben und den Mittelpunkt des Spiels für Bastian Schweinsteiger freigehalten, was sich dann als Fehler erwiesen hat. Das Vermeiden solcher Irrtümer wäre für die Mission Titelverteidigung sehr hilfreich. Noch hilfreicher sogar als eine weitere Alternative für die linke Außenverteidigung.

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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