WM 2010: Thomas Müller:Die wilde 13

Ein Spielertyp, den kein anderer WM-Trainer hat: Der torgefährliche Vagabund Thomas Müller ist eine Bedrohung für jeden Gegner. Er fürchtet nicht einmal den Vergleich mit großen DFB-Helden.

Christof Kneer

Als Thomas Müller mit der Nummernwahl dran war, waren nur noch drei Hemden frei. Die "14" war noch zu haben, eine schöne Zahl, einst berühmt gemacht durch den großen Johan Cruyff, später beim DFB in Ehren gehalten durch den fast so großen Gerald Asamoah. Auch die "4" lag noch herum, eine Nummer, die nach Gras, Dreck und Grätsche riecht und in Deutschland zumeist von Karlheinz Förster und Jürgen Kohler eingesaut wurde. Und natürlich die "13". Aber kann man, darf man diese Nummer nehmen, als junger Spieler, die Nummer von Michael Ballack und vor allem: von Gerd Müller? "Für mich war das eine Steilvorlage", sagt Thomas Müller. Er hat natürlich die "13" genommen.

WM 2010 - Deutschland Training

Ich hab die Nummer 2. - Falsch, Thomas Müller (Mitte). Der Münchner hat die Trikotnummer 13, wie einst Gerd Müller oder Michael Ballack.

(Foto: dpa)

Thomas Müller graust es vor gar nichts. Ein bisschen Unterwürfigkeit müsste man doch erwarten können von einem 20-Jährigen, dem plötzlich die halbe deutsche Fußballgeschichte auf den - im Übrigen sehr schmalen - Schultern lastet. Oder nicht? "Mich setzt die 13 nicht unter Druck", sagt Müller, "ich muss vor dieser Nummer nicht davonlaufen." Thomas Müller ist so, wie er spielt, er spielt so, wie er ist: naturbelassen, geradeaus und immer unterhaltsam.

In Joachim Löws kuriosem Kader ist Thomas Müller der kurioseste Spieler. Er kommt einerseits von ganz unten zu dieser WM, von Bayerns Drittliga-Elf, der er bis zum Sommer 2009 noch diente; andererseits kommt er von ganz weit oben, er kommt vom Champions-League-Finale angereist und vom Münchner Rathausbalkon. Er hat dünne Beine und einen dicken Schuss, er kann keinen brillanten Trick, kommt aber trotzdem an jedem Gegner vorbei, er ist nicht sehr kräftig, aber so sehnig und zäh, dass er noch nie länger als ein, zwei Wochen verletzt war. "Wo keine Muskeln sind", sagt er, "kann auch nichts weh tun." Er kokettiert gern mit seinen Schwächen, weil er weiß, dass es eigentlich Stärken sind.

Thomas Müller ist nicht nur die kurioseste, sondern auch die spannendste Personalie, die Deutschland zurzeit zu bieten hat. Das liegt vor allem an jenem Alleinstellungsmerkmal, das den Fußballer Müller kennzeichnet. Sein Alleinstellungsmerkmal ist, dass er einen Fußball spielt, den man nicht vergleichen kann.

Unsichtbarer Multifunktionsmüller

"Ein Spieler, der ähnlich komisch spielt wie ich, ist nicht leicht zu finden", sagt Müller. Er amüsiert sich ja selbst über diesen eigenwilligen Spielstil, der nicht leicht zu fassen ist. Müller kann rechts wie links, er kann zentral, hängend, nicht hängend, halb hängend und zur Not auch ganz vorne drin. "Offensivallrounder" antwortet er, wenn man ihn nach seiner Position fragt. Aber es ist nicht allein diese Vielseitigkeit, die den Multifunktionsmüller für jeden Trainer so attraktiv und für jeden Gegner so gefährlich macht.

Was ihn vor allem auszeichnet, ist eine aggressive Unsichtbarkeit. Er ist wild und forsch, er stürmt und drängt, aber gleichzeitig gelingt es ihm, vom Radar des Gegners zu verschwinden und plötzlich an einer Stelle aufzutauchen, an der zufälligerweise der Ball liegt, zufälligerweise meistens genau vor dem Tor. In dieser Hinsicht ist Müller eine Art moderner Makaay, nur dass er mit seinen geheimnisvollen Laufwegen praktischerweise die gegnerische Elf verunsichert, nicht die eigene. "Dieser Instinkt steckt anscheinend in mir drin", sagt er, "ich such mir meine Wege schon."

Vagabund im Angriff oder Drohung auf der Bank?

Joachim Löw kann sich an der Gewissheit wärmen, dass er einen Spieler in seinem Kader hat, den kein Kollege hat. Er muss jetzt nur noch entscheiden, ob ihm dieser torgefährliche Vagabund vom Anpfiff an am liebsten ist oder ob er sich den Luxus leisten möchte, ihn als Drohung auf die Bank zu setzen. Müller wäre die erste Variante verständlicherweise lieber. "Ich habe schon Hoffnung, dass ich von Anfang an spiele", sagt er und verweist auf seine eindrucksvolle zweite Halbzeit im Testspiel gegen Bosnien, "mit der ich selbst ganz zufrieden war".

Seine aktuelle Münchner Rolle, die des zentralen Lauerers hinter einer einzigen Spitze, ist beim DFB von Mesut Özil blockiert, aber verführerisch lockt jene Position, auf der ihn Bayern-Coach Louis van Gaal anfangs besetzte. Den rechten Flügel vertraute Löw zuletzt dem Hamburger Piotr Trochowski an, der auch davon profitiert, dass der mächtige Kapitän Philipp Lahm, ein Kumpel aus gemeinsamen Münchner Zeiten, gerne mit ihm kombiniert. Vielleicht wird Trochowski am Sonntag gegen den WM-Auftaktgegner "Auschdralien" (O-Ton Löw) beginnen dürfen, aber auf Dauer könnte auch Trochowski machtlos sein gegen die wilde Nummer 13, die beim FC Bayern, in anderer Rolle, auch Miroslav Klose und Mario Gomez besiegte.

Thomas Müller hat die "13" genommen, weil er sich von großen Namen nicht aus der Ruhe bringen lässt. So gesehen, wären aber auch die "4" und die "14" keine schlechte Wahl gewesen. Beim WM-Sieg 1974 wurden sie von zwei Münchnern getragen, von Katsche Schwarzenbeck und einem gewissen Uli Hoeneß.

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