WM 2010: Taktik:Tendenz zur Handballisierung

Viererkette, Fünfermittelfeld, enge Räume: Die Betonmischer prägen bisher die WM. Nur Deutschland und zweieinhalb andere Mannschaften sind die rühmlichen Ausnahmen.

Thomas Hummel, Johannesburg

"Wo bleibt hier der Fußball?" fragte Carlos Alberto Parreira, als seine Mannschaft zwei Tage vor dem ersten Spiel im offenen Bus von mehr als 100.000 Menschen in Johannesburg gefeiert wurde. Es bot sich ein absurdes Bild: der Triumphzug einer Mannschaft, die noch gar nicht gespielt hatte. Jetzt hat Parreiras Mannschaft zweimal gespielt, die meisten anderen hatten bei dieser Fußball-WM einen Auftritt, doch die Frage ist immer noch die gleiche: Wo bleibt hier der Fußball?

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Wenig zu tun: Die Torhüter wie etwa Nigerias Vincent Enyeama werden nur wenig geprüft.

(Foto: afp)

Eine Weltmeisterschaft soll immer auch eine Messe sein, neue Tendenzen des Spiels zeigen, neue Wege zum Erfolg aufzeigen. Von den Millionen Zuschauern in aller Welt wird die WM vor Beginn aufgeladen mit den höchsten Erwartungen: Sie soll emotionsgeladene Partien und bewundernswerte Stars hervorbringen, das offensive Spiel zelebrieren. Kurz: einen Monat lang Spektakel bieten. Doch wie so häufig wird die Welt auch von dieser 19. WM enttäuscht.

Fast alle Mannschaften bieten in Südafrika einen Sicherheitsfußball, den böswillige Stimmen bislang nur Otto Rehhagels Griechen zugeteilt hatten. Vor lauter Angst, im ersten WM-Spiel schon vieles kaputt zu machen, erlebt der Fußball eine Handballisierung: Rund um den Strafraum formieren sich zumeist zwei Verteidigungsringe, die Viererabwehrkette und davor eine weitere, mit drei bis fünf Mittelfeldspielern besetzte Reihe. Die Nordkoreaner setzten gegen Brasilien sogar eine Fünferabwehrkette ein, und hatten damit so viel Erfolg, dass ein Nachahmungseffekt nicht auszuschließen ist.

Die 1:0-WM

Und so kommt es, dass diese erste WM-Woche hin zum perfekten Zerstörer-Fußball tendierte. In den ersten 16 Spielen fielen ganze 25 Tore, das macht einen Schnitt von rund 1,6 pro Partie - deutlich weniger als bei allen Turnieren in den vergangenen Jahren. Nur Griechenland konnte am Donnerstag einen Rückstand drehen, in sechs Partien reichte ein Tor zum Sieg. Manche sprechen bereits von der 1:0-WM.

Für alle Liebhaber des offensiven Fußballs löst dabei vor allem der Sieg der Schweiz gegen die Spanier Alarmstimmung aus. Denn so sehr man sich mit dem Außenseiter freut: Wenn schon der sonst perfekte Kombinationsfußball des Europameisters nur zu einem 0:1 führt, dann müssen sich die Betonmischer des Turniers bestätigt fühlen.

Mutige Chilenen

Bislang sah Südafrika nur dreieinhalb Ausnahmen vom defensiven Wucht-Fußball. Zuvorderst die brillanten Deutschen, die es bislang als einzige Mannschaft schafften, mit Steilpässen, dem sogenannten vertikalem Spiel, die Abwehrringe vor dem Strafraum auszuhebeln. Bundestrainer Löws Mannen kamen reihenweise hinter die australische Viererkette und wirbelten diese damit völlig aus der Balance. Die zweite Ausnahme waren die Argentinier im zweiten Spiel, die mutige Südkoreaner am Ende demontierten.

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Nur wenige Mannschaften durften sich bislang so über gelungene Aktionen freuen wie die deutsche Elf.

(Foto: afp)

Als einziges Spiel, in dem sich beide Seiten wenig um vorsichtige Taktikaufgaben kümmerten, geht das Duell der Engländer gegen die USA durch. Vielleicht durch das frühe englische Tor entwickelte sich zwar kein hochklassiger, aber zumindest ein packender Schlagabtausch in Rustenburg. Die halbe Ausnahme bildeten die mutigen Chilenen, die zwar auch nur 1:0 gegen Honduras gewannen, deren Offensivspiel indes ebenso auf Sprints hinter die gegnerische Abwehrlinie und dem dazugehörigen Steilpass basierte.

Sonst scheinen auch die Favoriten mit der Parole Safety first auf den Platz zu laufen und vorne auf ihre individuelle Klasse zu hoffen. Bestes Beispiel sind dafür trotz ihres starken Auftritts gegen Südkorea die Argentinier. Diego Maradona postiert vor der Viererkette noch drei Spieler als Abschirmjäger, vorne soll der Ball zu Lionel Messi, Gonzalo Higuaín oder Carlos Tévez. Auch Brasilien schickt viele Defensivspieler auf den Platz und hofft auf geniale Momente von Kaká oder Robinho, um anschließend auf Konterfußball umzuschalten.

Gott sei Dank gibt's die Torwartpatzer

Sogar die Gefahr durch Standardsituationen wird minimiert, indem bei jedem Freistoß alle Spieler in den eigenen Strafraum kommandiert werden. So muss bisweilen der gegnerische Torwart herhalten: Die USA (gegen England), Italien (gegen Paraguay), Slowenien (gegen Algerien) und Griechenland (gegen Nigeria) profitierten von fürchterlichen Patzern. Den Serben wurde ein Aussetzer des Stuttgarters Kuzmanovic zum Verhängnis, der die Hand zum Ball streckte.

Es ist eine wiederkehrende Erkenntnis, dass Nationalmannschaften im Vergleich zu Klubteams sich gerne in die Defensive flüchten. Für das Erlernen des offensiven Zusammenspiels bleibt oftmals zu wenig Zeit, bisweilen fehlt der Mut, manchmal reicht die Qualität des Kaders nicht aus.

Immerhin lebt vor den weiteren Tagen eine berechtigte Hoffnung: Von nun an werden einige Teams einfach Tore schießen müssen, wenn sie nicht schon in der Vorrunde ausscheiden wollen. Das zeigte sich schon am Donnerstag, als die Teams in die zweite Runde gingen. Und man höre und staune: Sogar Otto Rehhagels Griechen konnten nach dem Rückstand gegen Nigeria plötzlich angreifen.

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