WM 2010: Stilkritik Deutschland:Die Macht der Geigen

Feingefühl in den Füßen, freche Burschen, ein aufklärender Kapitän, Panzer mit unaussprechlichen Namen und fünf Tröten: eine Stilkritik der deutschen WM-Mannschaft.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

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(Foto: dpa)

Die Welt staunt über Deutschland. Da hatte sie sich jahrelang an Begriffe wie "Panzer" und "Blitzkrieg" gewöhnt - und jetzt? Jetzt spielen die deutschen Fußballer plötzlich "wie Violinen", ein Bild, das gleich zwei spanischen Zeitungen einfiel. In Frankreich werden die DFB-Fußballer als "Dichter und Denker" gefeiert, die Gazzetta dello Sport berichtet liebevoll von "Löws schrecklichen Burschen". Nur wenige Blätter können sich von den liebgewonnenen Klischees nicht trennen: "German Panzer - Fritz All Over" erkannte der südafrikanische Daily Star. Es braucht also wieder einmal die Süddeutsche Zeitung, um Licht in dieses metaphorische Dickicht zu bringen. Welcher deutsche Nationalspieler eine Violine, welcher ein Dichter, welcher ein schrecklicher Bursche und welcher ein Fritz ist, erfahren Sie nur hier. Außerdem erfahren Sie, bei welchen Nationalspielern es sich in Wahrheit um Vuvuzelas handelt - um Spieler, die sich durch ihre ständige Anwesenheit im Stadion auszeichnen.

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(Foto: afp)

VIOLINEN Mesut Özil (links) Die Ann Sophie Mutter des deutschen Fußballs, trägt die Stradivari an den Füßen. Verkörpert die Fußball-Hochkultur, besteht aber auf eigenständiger Interpretation der großen historischen Werke. Kennt die Klassiker Netzer, Overath und Häßler, spielt sie aber völlig anders. Erlangte seinen Weltruhm nicht unter Herbert von Karajan, sondern unter Thomas Schaaf. Fraglich, ob er noch lange im Konzerthaus am Weserstadion aufspielt, es locken die großen Orchester. Laut "Klassik Heute" bestehen nicht nur Kontakte zur Nou-Camp-Oper nach Barcelona, sondern auch zum großen Londoner Arsenal-Dirigenten Arsene Wenger, dem Ann Sophie Vater des musischen Fußballs. Miroslav Klose (rechts) Gilt als größtes Rätsel der Musikgeschichte. Wird von führenden Musikkritikern inzwischen als "Quartalsspieler" bezeichnet: Glänzt alle zwei bis vier Jahre auf den ganz großen Bühnen, taugt dazwischen aber eher für die Kleinkunstbühne Kaiserslautern. Zerstreutes Genie. Verlegt manchmal seinen Geigenkasten, stolpert über den Notenständer, plumpst in den Orchestergraben. Leidet neuesten Gerüchten in der Musikbranche zufolge womöglich an einem speziellen Beethoven-Syndrom, einer Art Teilzeit-Taubheit. Versteht dann sein eigenes Spiel nicht. Auf großen Bühnen hört er aber sehr gut. Fiedelt dann dem Gegner einen rein. Cacau Bekam seine Sambavioline in Santo Andre/Brasilien in die Wiege gelegt. Lacht immer beim Geigen. Fügt dem deutschen Spiel eine bislang unbekannte, sehr geschmeidige Klangfarbe hinzu. Bekannt für seinen Fleiß, übt viel, manchmal bis zur Bauchmuskelzerrung. Exzellenter Künstlername, der Frauen und Kindern gefällt. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt Meister der feinen Hände. Ertastet Verletzungen, die Kollegen verborgen bleiben. Kreativster Kopf der Medizinerbranche: Hat das Syndesmoseband erfunden, angeblich auch die Adduktorenzerrung und das Schienbeinköpfchen. Die Kunst hält ihn jung, gilt als Dorian Grey des deutschen Fußballs. Jüngert täglich. Bekannt für seinen praktizierten Humanismus: Hat kürzlich sogar Kevin-Prince Boateng behandelt. Ebenfalls exzellenter Künstlername. "Mull" gefällt Frauen, Kindern und Patienten.

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(Foto: AFP)

DICHTER UND DENKER Philipp Lahm Steht in der Tradition der deutschen Aufklärer. Klärt die Mitspieler über ihre Fehler auf und manchmal auch für sie auf der Linie. Gilt schon zu Lebzeiten als Reformator des deutschen Kapitänswesens. Steht nicht mehr in der Tradition von Matthäus, Kahn und Ballack, die den jungen Violinisten im Team manchmal die Meinung geigten. Bastian Schweinsteiger (links) Macht das Mittelfeld dichter und denkt dabei. Sami Khedira (rechts) Macht auch das Mittelfeld dichter und denkt dabei. Ausgebildet an der Eliteuniversität in Stuttgart, muss aber, um als echter Dichter & Denker zu gelten, noch seinen Doktor machen. Titel der Doktorarbeit: "Der moderne Sechser. Chancen und Risiken einer offensiven Spielauffassung unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Raumaufteilung".

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(Foto: dpa)

SCHRECKLICHE BURSCHEN Thomas Müller (hinten) Ein Bursche, den die bayerische Natur hervorbrachte. Spielt voller Urvertrauen in sich und seine Herkunft und mit einer originellen Gelassenheit, die sich ausschließlich in bayerischen Bergen und Biergärten erwerben lässt. Ein schrecklicher Bursche ist er vor allem für seine Gegner, die er zu schrecklichen Wortspielen animiert: "England was mullered by Germany" - zermahlen. Hat seiner Frau nach der Christmette einen Antrag gemacht. Schrecklich romantisch, der Bursch! Manuel Neuer Ein Müller, nur aus Gelsenkirchen. Spielt voller Urvertrauen in sich und seine Herkunft und mit einer frechen Gelassenheit, die sich ausschließlich in Eckkneipen in Gelsenkirchen-Buer erwerben lässt. Draufgänger, der sogar Tore vorbereitet (1:0 gegen England), manchmal allerdings zu früh auf Flanken draufgeht (1:2 für England). Hat eine Freundin, die aus der Gegend stammt, aus der Müller stammt. Christmette abwarten! Lukas Podolski Kleiner Bursch in großem Körper. Steht in der Tradition von Max & Moritz. Seine manchmal unwiderstehlichen, manchmal aktionistischen Streiche bestehen aus krachenden Linksschüssen, die manchmal ins Tor gehen, manchmal daneben, manchmal darüber. Braucht zwischen seinen Streichen viele Pausen, obwohl er doch gerade erst ein Jahr in der Stammelf des 1.FC Köln pausiert hat. Für die WM gilt: "Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe" - dann muss er nämlich zurück nach Köln. Jerome Boateng (vorn) Sieht aus wie schrecklicher Bursche, riesenhaft und tätowiert. Ist aber eigentlich ein ganz Lieber, manchmal sogar ein wenig zu lieb, wie beim englischen Gegentor, als er sich - statt zum Kopfball hochzusteigen - bückte, als würde er auf dem Boden seine Violine suchen. Hat einen Bruder, der als richtig schrecklicher Bursche gilt. Schlägt sich tapfer auf einer Position (links hinten), die ihm gar nicht so gefällt. Belohnung: Wechselt nach der Weltmeisterschaft zu den schrecklich reichen Burschen von Manchester City. Marcell Jansen Ist ein schrecklich leidenschaftlicher Bursche. Bei der WM von einer schrecklichen Redelust befallen, aber man hört ihm immer gerne zu. Wäre vor zwei Jahrzehnten womöglich als deutscher Panzer bezeichnet worden, als Walz von der Pfalz vom Niederrhein. Fühlt sich aber bei den schrecklichen Burschen wohler. Marko Marin Ein schrecklich begabtes Bürschchen, mit der Befähigung zum erwachsenen Violinisten. Spielt aber im Moment noch bei "Jugend musiziert".

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(Foto: ag.ddp)

DEUTSCHE PANZER Per Mertesacker (links) Groß, blond, unaussprechlicher Nachname: Hat alle Klischees zu bieten, die das Ausland so liebt. Müsste nur noch "Fritz" mit Vornamen heißen. Verteidigt auch zunehmend nach altem deutschem Reinheitsgebot. Gut, wenn er liberoartig die Bälle wegdreschen kann. Weniger gut, wenn violinenhaftes Verteidigen gefragt ist. Hat aber versprochen, dass er sich steigert und gegen England schon mal damit angefangen. Könnte dann zu den Dichtern & Denkern aufsteigen. Arne Friedrich (rechts) Galt als veraltete Baureihe, gilt inzwischen als Vorzeigepanzer. Zuverlässig, geländegängig, guter Wendekreis, schnell. Ist außerdem ein ausgesprochen freundlicher Panzer, fällt garantiert nicht unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. Hat das Interesse der Fahrzeugfabrik aus Wolfsburg geweckt. Holger Badstuber Auch groß, auch blond, auch unaussprechlicher Nachname: Wurde im Ausland als hoffnungsvoller Nachwuchspanzer gehandelt. Kann viel mehr als das, was derzeit aber keiner sehen kann. Offenbar ungeeignet für den südafrikanischen Linksverkehr, wurde per Rückrufaktion ins Werk zurückbeordert und vorerst aus dem Verkehr gezogen. Wird aber spätestens in München vom Chefkonstrukteur Louis van Gaal wieder instandgesetzt. Mario Gomez Galt als moderne, südländische Version des deutschen Panzers, mit eingebauter Torero-Funktion. Spielt zurzeit aber eher wie ein Panzer mit eingebauter Riester-Renten-Funktion, für die er auch Werbung macht. Stefan Kießling Klassisches deutsches Modell aus der Klinsmann-Baureihe. Bleibt meistens in der Garage, wo er ungeduldig mit den Ketten rasselt. Tim Wiese Steht in der Tradition der deutschen Torwartpanzer Schumacher und Kahn. Muss ebenfalls in der Garage bleiben, es sei denn, Deutschland erreicht das Spiel um Platz drei.

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(Foto: ag.ddp)

VUVUZELAS Piotr Trochowski (links), Toni Kroos (Zweiter von links) Haben bisher nur kurz von sich hören lassen. Haben aber das Zeug zum schrecklichen Burschen oder gar zumViolinisten. Serdar Tasci (Zweiter von rechts), Dennis Aogo Haben noch nichts von sich hören lassen. Hoffen auf das Spiel um Platz drei. Hans-Jörg Butt Deutschlands stillste Tröte. Trifft aber, wenn es sein muss, den richtigen Ton. Weiß, dass schon Tim Wiese aufs Spiel um Platz drei hofft. Hofft vermutlich auf die zweite Halbzeit des Spiels um Platz drei.

© SZ vom 30.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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