WM 2010: Presseschau:Sorge um die Stressresistenz

In der Presseschau "indirekter freistoss" geht es heute um mögliche Umbaumaßnahmen in der deutschen Elf, Portugals Schützenfest und um die Frage, warum es so schwierig ist, mit der WM Werbung zu machen.

Michael Rosentritt erinnert sich im Tagesspiegel an das letzte große Turnier und vermisst den verletzten Kapitän: "Das bisher letzte Spiel dieser Art wird für immer mit einem Spieler verbunden bleiben, der jetzt fehlt - mit Michael Ballack. Vor zwei Jahren war die Ausgangslage bei der EM vor dem dritten Gruppenspiel ähnlich. Nach einer Niederlage gegen Kroatien durfte Deutschland gegen Gastgeber Österreich auf keinen Fall verlieren. Die Elf von Joachim Löw spielte schwammig. Bis zu jenem Freistoß, den Ballack mit der Kraft seines Willens ins Tor jagte und der den Deutschen den Weg in die K.-o.-Runde ebnete." Die Zweifel bezögen sich nicht auf das Können, jedoch auf das Vermögen, dieses abzurufen: "Fußballerisch bestehen noch die geringsten Probleme, doch wie steht es im mentalen Bereich? Wie ist es um die Stressresistenz der jungen Mannschaft bestellt?"

WM 2010: Deutschland - Serbien

Wie ist es um die Stressresistenz von Joachim Löws junger Mannschaft bestellt?

(Foto: ag.ddp)

Frischer Wind mit deutschen Sturm

Matti Lieske (FR) lässt Cacau zu Wort kommen und gibt eine optimistische Prognose für das Ghana-Spiel ab: "Natürlich könne er die Position von Klose spielen, nur eben verschieden. 'Ich bin ein eben anderer Spielertyp als Miro, das kann man nicht vergleichen', erklärte Cacau, 'ich werde, wenn ich spiele, versuchen, mit meinen Stärken der Mannschaft zu helfen: Schnelligkeit, gute Ballbehandlung, Torschuss.' Wenn das in dieser Reihenfolge funktioniert, sollte einem Sieg gegen Ghana und dem Erreichen des Achtelfinales nichts entgegen stehen."

Auf 11Freunde.de meldet sich noch einmal Michael Rosentritt zu Wort und sieht einen weiteren Kandidaten, dessen Stammplatz nicht sicher sei: "Wenn der Bundestrainer wegen Klose schon einmal dabei ist, könnte er auf die Idee kommen, auf einer weiteren Position nachzubessern. Denn, und das ist ein weitere Weisheit, auch eine offensichtliche Überforderung hat schon Konsequenzen nach sich gezogen. Da, wo Holger Badstuber gegen die Australier nicht viel mehr zu tun hatte als der benachbarte Linienrichter, fädelten die Serben ihre gefährlichen Aktionen ein. Über seine Abwehrseite entstand auch das entscheidende Gegentor, als Milos Krasic den Münchner zum wiederholten Male überlaufen konnte. So schnell wie Badstuber ins Team gekommen ist, könnte er auch wieder verschwinden."

Schiris vom Strand

Spanien schlägt den krassen Außenseiter Honduras mit 2:0 und zeigt sich spielerisch verbessert. Der eine Stürmer kommt in Fahrt, der zweite ins Stolpern. Christian Kamp (FAZ.net) sieht einen von Beginn an dominanten Europameister: "Es war den Spaniern anzumerken, dass sie sich mit dem ersten Turniertreffer nicht allzu viel Zeit lassen wollten. Sofort spannten die Männer in Rot ihr Netz über den Platz und ließen die Bälle wie am Faden gezogen laufen. Dass Andres Iniesta wegen einer Oberschenkelblessur geschont werden musste - gegen diesen Gegner war das kein ernstes Handicap. Xavi hatte im Mittelfeld auch so alles im Griff."

Glanz neben Elend

Spaniens inkonsequente Chancenverwertung lag, wie Matti Lieske (FR) herausstellt, daran, dass die Stürmer auf unterschiedlichem Formlevel agierten: "Villa hatte auf der linken Seite (...) viel Spaß mit seinem völlig überforderten Gegenspieler Sergio Mendoza, aber auch viel Glück, dass der Schiedsrichter eine dumme Tätlichkeit an Emilio Izaguirre übersah. Partner Torres tat derweil alles um zu unterstreichen, dass er nicht sein bestes Jahr als Fußballer verlebt. Der Angreifer von Englands Saisonenttäuschung FC Liverpool führte die ganze Vielfalt an Möglichkeiten vor, Torchancen zu vergeben, fast so, als wolle er sich um einen Platz im Sturm von Hertha BSC bewerben."

Auch Paul Wilson (Guardian) mahnt Verbesserungen an, wenn Spanien seine Ziele erreichen wolle: "Sie werden nicht unbedingt in der Lage sein, Chile im entscheidenden Gruppenspiel in ähnlicher Weise zu beherrschen; sie werden deutlich effizienter werden müssen, wollen sie ihren Status als Turnierfavorit bestätigen; und sie brauchen den Nachweis, dass Fernando Torres vollständig wiederhergestellt ist."

Die Schweiz unterliegt Chile mit 0:1. Das Spiel wird auch von Schiedsrichterentscheidungen geprägt, die an das letzte Spiel der deutschen Elf erinnern. Perikles Monioudis (NZZ) zollt dem Gegner Respekt und beklagt die einschneidende Wirkung der Hinausstellung: "Es ist das schwierige Spiel geworden, das man aus Schweizer Sicht gefürchtet hatte. Chile erwies sich als der laufstarke, ballsichere, kombinationsstarke Gegner, gegen den man vor allem eins wollte: zu null spielen. (...) Die Rote Karte verschärfte dieses Defensivkonzept in einem Mass, dass man im Schweizer Team, mangels struktureller Möglichkeiten in der Offensive, eine veritable Abwehrschlacht zu schlagen hatte."

Andrew Keh (New York Times) hatte sich auf ein anderes Spiel gefreut: "Dieses Aufeinandertreffen versprach ein Kräftemessen der konträren Systeme zu werden: der chilenische Angriffswirbel gegen eine bestens eingestellte schweizer Defensive. Aber eine Reihe früher Karten, inklusive des Platzverweises für Valon Behrami in der 31. Minute, führten zu einem durchweg zerfahrenen Spiel."

Wer im Glashaus sitzt ...

Benjamin Steffen (NZZ) ist mit dem Platzverweis auch nicht glücklich, relativiert jedoch die Schweizer Empörung: "Behrami musste nicht exklusiv für seine Unschuld werben, der Trainer und einige Kollegen hatten Vorarbeit geleistet und den Platzverweis scharf verurteilt (...). Niemand fragte, was Behramis Hände an Vidals Hals verloren hatten; niemand erinnerte sich, dass Steve von Bergen nach der Pause ähnlich übertrieben zu Boden gesunken war, als sei er Schauspielschüler Vidals; niemand sah Grautöne und sagte, eine gelbe Karte gegen Behrami hätte es vielleicht getan.

Ronaldos Pointe

Das Lösen der Spaßbremse Nach dem Schützenfest gegen ein auseinanderbrechendes Nordkorea erinnert Christian Eichler (FAZ.net) daran, dass die Leichtigkeit nicht von Beginn an da war: "Die Portugiesen schienen genervt. Die Namenlosen ließen sie lange schlecht aussehen, und dann ruinierte der Regen auch noch die hochgestylten Frisuren einiger Stars. Ronaldo, der mehr als eine Stunde lang an keinem Verteidiger vorbeikam, ruderte wütend mit den Armen und zeigte, um wenigstens ein bisschen aufzufallen, zwei, drei fruchtlose Zirkusnummern, etwa einen Querpass über zwei Meter mit der Hacke hinter dem Standbein hindurch. Doch dann startete Raul Meireles aus dem Rückraum, Tiago spielte mit dem Außenrist und perfektem Zeitgefühl den Ball in die Gasse, und unter Torwart Ri Myong Guk jagte der Ball ins Netz."

Als der Torreigen dann eröffnet ist, schmunzelt Ronny Blaschke (Berliner Zeitung) über Kurioses. Cristiano Ronaldo sorge für Erheiterung: "Nicht mit einem Witz, aber mit einem Tor, das einem Witz gleichkam. Kurz vor Schluss kam Ronaldo in Ballbesitz, mehr Zufall als Können. Der Ball fiel auf seinen Nacken, tropfte auf seinen Hinterkopf, fiel ihm schließlich vor die Füße. Der Rest gehörte zu seinen leichtesten Aufgaben, das Tor war leer. Welch eine Pointe."

Matthias Krupa (Zeit Online): "So schön und zugleich treffsicher hat schon lange kein 'Großer' mehr einen 'Kleinen' zerlegt. Nörgler mögen einwenden, dass das portugiesische Spiel erst richtig in Fluss gekommen sei, als es schon 2:0 stand. Mag sein, aber die Brasilianer mussten vor ein paar Tagen beim selben Stand gegen Nordkorea sogar noch zittern. Damit kommt es im letzten Spiel der Gruppe G zwischen Portugal und Brasilien nicht nur zum Endspiel um den Gruppensieg. Geklärt wird auch, vorerst jedenfalls, welche der beiden Mannschaften den brasilianischeren Fußball spielt."

Johannes Kopp (taz) wirft einen Blick auf die Mannschaft Nordkoreas und ihre Verbindungen nach Europa, denn alle Transferrechte der Spieler liegen bei den Schweizer Geschäftsmännern Stephan Glaser und Karl Messerli, die sich nun durch die WM eine hohe Rendite erhoffen. Sie sorgten dafür, "dass die Nordkoreaner im Mai 2009 ein Trainingslager in der Schweiz beziehen konnten. Es war ihr erster Auftritt in Europa nach der WM 1966 in England. Während sich Nordkorea auf politischer Ebene immer wieder ins Abseits stellt und jüngst der südkoreanischen Hauptstadt Seoul gar ein Flammenmeer in Aussicht stellte, verfolgt das Land auf der Ebene des Sports ein Konzept der streng kontrollierten Öffnung, um durch mehr Input von außen konkurrenzfähiger zu werden." Moralische Bedenken plagen die Geschäftsmänner nicht: "Seine Devise ist altbekannt. Er sagt: 'Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer.' Messerli sucht derzeit nach einem Schweizer Verein, den er 'zur Drehscheibe für junge nordkoreanische Talente machen möchte.' Einen Juniorenspieler hat er bereits zuletzt an Concordia Basel vermittelt."

Ghanaische Aktien

Vor dem Entscheidungsspiel gegen Ghana befasst sich Christian Kirchner (Financial Times Deutschland) mit der möglichen finanziellen Absicherung im Falle einer deutschen Niederlage. Er empfiehlt ghanaische Aktien, "denn ihre Korrelation mit anderen Wertpapieren ist extrem niedrig. Schon 1998, als die Russlandkrise die Kurse weltweit in den Keller schickte, war die Börse Ghana das beste Schwellenland weltweit. 2008 wiederholte sich das Spiel: Rund 40 Prozent Jahresverlust fielen an den Börsen der Industrieländern an - in Ghana legten die Papiere 28 Prozent zu. Im letzten Jahr - als sich weltweit die Indizes dann kräftig erholten - hat die in Accra ansässige Börse die Korrektur mit einer Halbierung nachgeholt, um nun im laufenden Jahr mit 37 Prozent Plus auf Euro-Basis zu den stärksten Aktienmärkten der Welt zu zählen." Auch eine Staatsanleihe wäre denkbar: "Standard & Poor's hält den Bond zwar für Ramsch. Aber dieses Urteil musste auch schon ein Ex-Europameister wie Griechenland über sich ergehen lassen. Für die Finanzen wohlgemerkt, nicht die Spielweise, die fraglos auch emotionale Sicherungsmaßnahmen vom Zuschauer verlangt. Bei Bedarf: Ein griechischer WM-Titel bringt das 530-Fache des Einsatzes."

Verbotene Werbung

Nach dem Zwischenfall um die Gruppe holländischer Frauen in orangefarbenen Minikleidern beschäftigt sich Heinz Peter Kreuzer (Deutschlandfunk) mit der Problematik des Ambush-Marketings bei der WM. Es gehe in erster Linie um den Schutz der Sponsoren, sagt der Münchner Anwalt Martin Stopper: "Wenn Sponsoren etwas zahlen an einen Weltverband, dann erwartet der Sponsor eine gewisse Exklusivität, dadurch, dass er viel Geld zahlt. Man muss darauf achten, dass nicht zusätzlich noch jemand kommt und Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft erwirbt, ohne das er einen einzigen Euro zahlt." Es gibt aber auch Wege dies zu umgehen: "Andere Unternehmen nutzen Grauzonen, um sich im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft zu platzieren. Wie der Autohersteller VW in einem Fernsehspot. Auch Pepsi hat im Wettstreit mit dem großen Rivalen und Fifa-Förderer Coca Cola Nadelstiche gesetzt. Mit einigen Fußball-Stars fährt das Unternehmen die "große Pepsi-Fußball-Promotion", gegen diesen Begriff können auch Fifa-Juristen nichts ausrichten. Der neueste Coup: In Anspielung auf Diego Maradonas Ankündigung, beim WM-Sieg Argentiniens nackt durch Buenos Aires zu laufen, will Pepsi in diesem Fall eine Woche lang nackte Flaschen - also ohne Aufkleber - verkaufen."

Der Blog Bagehot vom englischen The Economist schaute bereits vor dem Start der WM auf den englischen Fußball und zog Parallelen zum Befinden des ganzen Landes: "Zur Zeit der letzten WM ging es England gut. Die Menschen profitierten vom ökonomischen Aufschwung. Viele dachten, es würde ewig so weiter gehen. Sie liehen sich zu viel Geld für ihre Häuser, dann liehen sie sich noch mehr für neue Autos und Urlaube. Die Regierung war ebenso verschwenderisch. Das ganze Land lebte in einer Seifenblase aus Überheblichkeit und unverdienten Ruhm. Das englische Fußballteam stand exemplarisch für diesen zügellosen Materialismus. Die WM in Deutschland war die Blütezeit der WAGs (footballers' wives and girlfriends) und Konsorten, die berühmt waren aufgrund ihrer Popularität, ihren Shoppingtouren und ihren Tabledance-Performancen. Sie waren die personalisierte Alles-für-Nichts-Kultur. Ebenso die Fußballer, die als die 'goldene Generation' galten, für den Titel bestimmt. Doch was sie ablieferten, war wieder einmal typisch Englisch: Sie begannen das Turnier mit dem überheblichen Gefühl von Größe - einer Größe, die auf einer verschwommen Vergangenheit beruht und die sie beauftragt waren wiederherzustellen - doch sie spielten unter diesem Druck ängstlich und zögerlich und verloren im Elfmeterschießen." Und heute sieht es ähnlich aus: "Das Team steht für eine Gesellschaft, die weniger zuversichtlich ist als noch vor Jahren und dennoch nach maximalem Erfolg strebt, obwohl sie nicht weiß, ob sie ihn verdient hätte."

Presseschau zusammengestellt von Carl Ronnecker und Jens Behler.

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