WM 2010: Presseschau:Kloses fehlendes Gespür

Beim "indirekten freistoss" geht es heute um eine bemerkenswerte deutsche Niederlage, Dumping-Löhne der südafrikanischen Sicherheitsleute und einen Schweizer, der von den Erfolgen Nordkoreas profitiert.

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Nationalspieler Miroslav Klose (re., im Duell mit Serbiens Dejan Stankovic) flog als siebter deutscher Spieler bei einer WM vom Platz. Sein Ziel, WM-Rekordtorschütze zu werden, hat der 32-Jährige damit wohl endgültig aus den Augen verloren.

(Foto: AFP)

Die deutsche Mannschaft sieht einige Dinge gegen sich laufen. Dass sie ihr Glück im Spiel gegen die Serben nicht zwingen konnte, habe aber nichts mit ihrer Jugend zu tun, schreibt Michael Horeni (FAZ.net): "Für die Niederlage lasen sich einige Gründe anführen - aber Mangel an Erfahrung gehört nicht dazu. Es waren nämlich ausgerechnet zwei Spieler mit einem riesigen Fußballfundus, die den größten Beitrag zur Niederlage leisteten. Schiedsrichter Undiano hat zwar arg übertrieben, in einem nie unfairen Spiel acht Verwarnungen und eine Gelb-Rote Karte zu verteilen. Aber mit seiner Erfahrung hätte Klose wissen müssen, mit welcher Sorte Schiedsrichter er es zu tun hatte."

In dieselbe Kerbe schlägt Markus Lotter in der Berliner Zeitung: "Wenn die Teilnehmer der deutschen WM-Safari wieder bei klarem Verstand sind, wird wohl auch bei ihnen die Erkenntnis reifen, dass Alberto Undiano nur eine Teilschuld trägt. Denn sollte es nicht auch zu den Talenten eines Nationalspielers zählen, dass er innerhalb von wenigen Minuten ein Gespür für den Unparteiischen entwickelt? Dass man erkennt, was geht und was nicht geht?"

Trotzdem ist man vielerorts auch mit der Schiedsrichterleistung nicht ganz einverstanden. Im Heimatland des Referees zeichnet José Sámano (El País) die verhängnisvolle Entwicklung nach: "Eine halbe Stunde war gespielt, in einer Partie ohne Bösartigkeiten, da hatte Undiano bereits Klose, Ivanovic, Kolarov, Khedira und Lahm mit einer Strafe belegt. Und all diese Verwarnungen lagen noch vor der eigentlichen Schlüsselszene. Der spanische Schiedsrichter legte sich auf eine so strenge Linie fest, dass die Bestrafung erfolgen musste."

Daniel Taylor (Guardian) lobt das deutsche Spiel trotz der Niederlage, hat jedoch einen entscheidenden Haken ausgemacht: "Unter diesen Umständen hat sich Deutschland halbwegs vernünftig aus der Affäre gezogen. In Unterzahl legten sie weiter den Vorwärtsgang ein, nutzten die Räume und kamen zu einigen Torchancen. Unglücklicherweise fehlte Podolskis Torabschluss das gesamte Spiel hindurch die Feinjustierung."

Die serbische Taktik geht auf

Kai Pahl (allesaussersport.de) weist darauf hin, dass es neben den großen Aufregern auch Taktisches zu besprechen gibt: "Serbien hat 1:0 gewonnen. Sie haben verdient gewonnen. Sie haben vor allem das Spiel "dominiert". Nicht dominiert in Sachen Ballbesitz (51:49% Deutschland), nicht in Sachen Torchancen (15:10 Torschüsse Deutschland). Aber in Sachen "Spiel aufzwingen". Der deutschen Verteidigung haben sie fassungslos häufig das Kopfballduell Zigic vs Lahm aufgezwungen. Der deutschen Defensive haben sie häufig das Laufduell Krasic vs Badstuber aufgezwungen. Zwei brutale Mismatches. Die haben die Räume im Zentrum eng gemacht und damit den deutschen Spielaufbau ausgebremst und häufig zur Seite abgedrängt. Damit ist der komplette Spielrhythmus der deutschen Mannschaft weggewesen, dass Timing im Nachrücken und Passen schien nicht mehr zu stimmen."

Die Spielidee sei schon mal verankert, stellt Stefan Osterhaus (NZZ) fest: "Auch gegen Serbien suchten die Deutschen bis zum Abpfiff mit spielerischen Mitteln den Weg zum Ausgleich, nicht ein einziges Mal unternahmen sie planlose Angriffe aus dem Halbfeld in der Hoffnung, dass irgendeiner per Kopf einen Querschläger ins Tor lenkt. Die Verlegenheits-Flanke wurde aus dem Repertoire verbannt. (...) Die Niederlage war bemerkenswert. Zum einen, weil die Deutschen erstmals seit 1986 eine WM-Vorrunden-Begegnung verloren, zum anderen, weil auch eine Unterzahl die Mannschaft nicht von ihrer Linie abbrachte. Sie vermied es, in alte Muster zu verfallen."

Richard Williams (Guardian) ist bedient: "Einmal mehr spielt England, als wäre das Drehbuch von einem untalentierten Witzbold geschrieben worden. Um zu Slowenien und zur Tabellenspitze aufzuschließen, um der eigenen Moral einen Schub zu geben und um dem Trainer eine schöne Geburtstagsfeier zu ermöglichen, hätten sie gewinnen müssen. Stattdessen mühten sie sich mit einer Leistung, die noch deutlich schlechter war als jene zum Auftakt gegen die USA, zu einem torlosen Unentschieden."

Immerhin eine Baustelle sei vorerst geschlossen worden, muntert Frank Hellmann (Tagesspiegel) auf: "Die wohl beste Nachricht für das Mutterland des Fußballs aus dem zweiten Gruppenspiel lautet daher: Zumindest vorläufig ist der WM-Torwart 2010 gefunden. Nicht unerwartet hatte Capello statt Pannen-Keeper Robert Green nun David James aufgeboten (...). Dass das Resultat gegen Algerien nicht besser ausfiel als gegen die USA, daran war diesmal tatsächlich nicht Englands Keeper schuld."

Der Auftakt des Spiels USA-Slowenien lief nicht so, wie es Nancy Armour (Boston Globe) erwartet hatte: "Die USA kamen mit dem Vorteil, England zum Auftakt ein Unentschieden abgerungen zu haben und hätten mit diesem Selbstvertrauen das kleine Slowenien vom Anstoß an beherrschen sollen. Stattdessen muteten sie unsicher wie komplette WM-Neulinge an. Die Verteidigung war lückenhaft und es gab einige sehr offensichtliche Missverständnisse. Trainer Bob Bradley verteidigte sein Team mit dem Hinweis, man brauche Zeit, um sich in solch ein taktisch geprägtes Match einzufinden. Das jedoch gelang Slowenien in Windeseile."

In Halbzeit zwei folgt das Comeback, jedoch verwehrt der Schiedsrichter das ganz große Happy End. George Vecsey (New York Times) flüchtet sich in den Konjunktiv: "In der zweiten Hälfte spielten die USA endlich ihre Stärken ungebremst aus - Schnelligkeit, Giftigkeit, Mut. Aus Fatalismus wurde Hoffnung. Und dann wurden sie um den Lohn gebracht. Wenn sie jedoch von Beginn an so furios aufgespielt hätten, wären sie nicht auf das nicht gegebene Tor von Edu, das eindeutig regulär war, angewiesen gewesen."

Der Blog von Mihir Bose bringt Licht ins Dunkel um die Abstimmung über die Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022. Vor der Entscheidung Ende des Jahres ist es jetzt an der Zeit, Deals und kleine Absprachen einzugehen. So scheint es bereits ausgemachte Sache, dass die WM 2018 in Europa stattfindet, für 2022 will sich deshalb die USA besonders positionieren. "Das Abstimmungssystem der Fifa ist völlig undurchsichtig. Als Japan und Korea sich für die WM 2002 bewarben und alles nach einem Sieg für Korea aussah, verkündete Blatters Vorgänger Joao Havelange, dass sich beide Länder die WM-Ausrichtung teilen. Der Hintergrund: Havelange hatte im Vorfeld Japan die WM versprochen." Das Rennen, so Bose, werde 2018 zwischen England und Russland entschieden, 2022 werden dann Katar und die USA um die Gunst der Fifa buhlen. "Die Sieger 2018 und 2022 werden an Allianzen vergeben, die nach der Verkündung des Wahl-Reglements im Oktober geschmiedet werden. Die USA wird hier die wichtigste Rolle spielen. Wie ironisch, dass die Neue Welt entscheidet, wo 2018 die WM stattfindet. Das zeigt, dass auch Fußball Politik ist."

16-Stunden-Schichten im Stehen

Elena Beis (taz) kümmert sich um den ersten großen Aufreger der WM. Die privaten Sicherheitsleute, eigens für die WM angeheuert, protestieren gegen Dumping-Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. Und bei den Demonstrationen und Streiks kommt es teilweise zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. "Auslöser für den Unmut sind die schlechten, schlecht kommunizierten und täglich willkürlich neu festgelegten Löhne vieler Wärter, die im Auftrag des WM-Organisationskomitees von der Sicherheitsfirma Stallion engagiert wurden." Die Konsequenzen sind gravierend: "Während der gewinnbringendsten WM in der Fifa-Geschichte sollen also, wenn man diesen Berichten Glauben schenkt, Menschen für Sicherheit sorgen, die 16-Stunden-Schichten im Stehen absolvieren, ohne jegliche Verträge, Sicherheiten und Rechte, ohne zu wissen, was sie für ihre Dienste verdienen, und die in einigen Fällen offenbar für die teuren Uniformen und Ausbildung selbst aufkommen - und in einigen Fällen weder Verpflegung noch Obdach haben. Ein Debakel für die WM."

Neuer Kurs bei der Aids-Bekämpfung Chiedza Chokera (taz) tadelt die Fifa für ihr anfängliches Zögern, die Weltmeisterschaft auch zur Aids-Aufklärung zu nutzen. Nun lenkt der Fußballweltverband jedoch ein: "Die südafrikanischen Aidskampagnen, von kirchlichen Gruppen bis zum Betroffenennetzwerk TAC (Treatment Action Campaign), sind begeistert über diesen Kurswechsel der Fifa. Nicht Millionen Kondome, sondern insgesamt 1,3 Milliarden wollen sie nun im Rahmen der WM kostenlos im ganzen Land verteilen, dazu Aufklärungsmaterial. Geplant sind Kulturereignisse, Ideenaustausch, Trainingsworkshops und natürlich ein Fußballturnier. Es ist ja schließlich die Fifa. Offiziell wird dies alles als Teil des südafrikanischen "Nationalen Strategischen Aidsplans 2002-2011" dargestellt und als Maßnahme zur Erfüllung der staatlichen Aidsbekämpfungsziele Südafrikas, dessen Regierung bis vor wenigen Jahren Aids allerdings noch wenig Priorität beimaß."

Jens Weinreich (Deutschlandfunk) widmet sich dem nordkoreanischen Team. Widerwillig muss sich dessen Verband den Fifa-Statuten unterwerfen und Pressetermine wahrnehmen. Dementsprechend groß ist das Medieninteresse. Von einem guten Abschneiden in der sogenannten Todesgruppe G würden aber weniger die Nordkoreaner profitieren - schließlich werden die Spiele wohl nicht im Land vom "geliebten Führer" Kim-Jong Il übertragen: "Sollte eine Überraschung gelingen, wird vor allem ein Schweizer Unternehmer profitieren: Denn Karl Messerli, der gewöhnlich mit Geschenkartikeln handelt, hat sich schon vor zwei Jahren die Transferrechte an den Nationalspielern gesichert", weiß Weinreich.

Trotz des drohenden Ausscheidens der Gastgeber genießt Elena Beis (taz) die Atmosphäre in Südafrika. Die peinliche Niederlage gegen Uruguay tat der Stimmung keinen Abbruch: "Die Euphorie, die Magie des vergangenen Tages überwog bei weitem die Enttäuschung in der Nacht. Auch weil es um so viel mehr ging als das Spiel: Das gibt es normalerweise nicht in Südafrika, dass man sich mitten in der Nacht so völlig angstfrei auf der Straße bewegen kann und dass Südafrikaner und Besucher jeder Nationalität so ausgelassen und selbstverständlich miteinander umgehen."

Im Tagesspiegel spricht der bekannte südafrikanische Reporter Niren Tolsi über Probleme rund um die Stadien und die neue Fußball-Klientel: "Die WM hat dafür gesorgt, dass die Mittelklasse angefangen hat, sich für Fußball zu interessieren. Schauen Sie in die Stadien: Sehr viele Fans der Bafana Bafana sind weiß, aber das entspricht nicht dem Zuschauerquerschnitt bei Ligaspielen. Zu den regionalen Spielen in Johannesburg kommen sonst kaum Weiße." Die Probleme rund um den privaten Sicherheitsdienst haben bei Tolsi ein ungutes Gefühl hinterlassen: "Ich fühle mich derzeit wirklich unwohl, wenn ich zu den Stadien gehe. Es ist, als würden wir in einem repressiven Polizeistaat leben. Dahinter steckt letztlich eine positive Intention, denn kein Südafrikaner würde behaupten, dass Sie nachts in jedem Winkel des Landes sicher sind. Ein bisschen mehr Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein der Gesellschaft hätte es aber auch getan."

Bartholomäus Grill (Zeit Online) vermisst bei der WM einen wichtigen Gast. Schließlich hat Nelson Mandela die WM in Südafrika erst ermöglicht und genießt in der Welt höchstes Ansehen. Nach der Eröffnungsfeier und dem tragischen Tod seiner Urenkelin ist der Vater der Nation allerdings nicht mehr gesehen worden. Schon wird über seine Gesundheit spekuliert: "Die großen Tageszeitungen des Landes rechnen damit, dass Mandela das Jahresende nicht mehr erleben wird. Die Nachrufe sind bereits geschrieben. Im Umland seines Heimatdorfes Qunu sind sämtliche Unterkünfte durch Journalisten seit einem Jahr ausgebucht. Die Medien wollen ganz vorn dabei sein, wenn Mandela bestattet wird, wenn das Land und die Welt um eine ihrer ganz großen Heldenfiguren trauern. Aber in diesen Tagen hoffen alle Südafrikaner, ihren geliebten Madiba noch einmal zu erleben: wenn er, und kein anderer, den Cup an das beste Fußballteam der Welt überreicht."

Johannes Leithäuser (FAZ.net) nimmt für einen kurzen Moment die irische Perspektive ein und erfreut sich an den miserable Auftritten der französischen Nationalmannschaft: "Ausgerechnet eine Mannschaft in grünen Trikots brachte der französischen Equipe jene WM-Niederlage bei, die auf der irischen Insel nicht als schadenfrohes Ereignis, sondern eher als göttliche Gerechtigkeit empfunden wird." Nach der Enttäuschung der verpassten WM-Qualifikation seien die Iren zu den anderen Nationalsportarten übergegangen: Rugby, Hurling und Gaelic Football.

Presseschau zusammengestellt von Carl Ronnecker und Matthias Nedoklan.

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