WM 2010: Presseschau:Der Oberschenkel der Nation

Die Presse diskutiert heute über den möglichen Einsatz von Toni Kroos, Waffenstillstand in Englands Boulevardpresse und den "großen Stabilisator" im deutschen Team.

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Wir Bastian Schweisteiger rechtzeitig zum Achtelfinal-Spiel am Sonntag wieder fit? Die Presse beschäftigte am Wochenende der "Oberschenkel der Nation".

(Foto: afp)

Michael Ashelm (FAZ.net) untersucht den "Oberschenkel der Nation", die mögliche Muskelverhärtung Bastian Schweinsteigers. "Statt des bisher im Turnier praktizierten 4-2-3-1-Systems könnte die Elf zurückkommen auf eine Spielweise auf 4-4-2-Basis - also mit vier Mittelfeldspielern und zwei Stürmern. Neben dem gegen Ghana noch gesperrten Rückkehrer Miroslav Klose könnten dann vielleicht Lukas Podolski, Thomas Müller oder Cacau angreifen. Käme es dazu, würde es auch im Mittelfeld personelle Verschiebungen geben. Selbst in der Abwehr wird der Bundestrainer wohl eine neue Lösung auf der linken Seite anstreben, weil der gegen Ghana noch aktive Jerome Boateng ebenso wie Schweinsteiger an einer Muskelverhärtung leidet - in der Wade!" Toni Kroos und Marcell Jansen wären als personelle Alternativen für Boateng und Schweinsteiger bereit, Holger Badstuber scheine seinen Kredit aufgebraucht zu haben. Hoffnung mache der lockere Umgang mit dem möglichen Elfmeterschießen: "Vor den stark interessierten englischen Journalisten, die seit Tagen schon wieder in der Heimat das eigene Bild einer Elfmeter-Psychose befördern, zeigte sich Löw unbeeindruckt. Er spielte die Wichtigkeit eines solchen Nervenspiels herunter und gab vor, nicht genau zu wissen, wann seine Spieler die Situation vom Elfmeterpunkt überhaupt noch üben würden in den letzten Trainingseinheiten."

Auf den Einsatz der Fernsehärzte vom Emergency Room oder Dr. House hofft Matti Lieske (FR). "Vor dem geistigen Auge erscheinen Bilder eines hyperventilierenden Ärzteteams, das um die bleich in ihren Betten liegenden Bastian Schweinsteiger und Jerome Boateng herumsteht und Theorien austauscht: Ist es der Oberschenkel, der Rücken oder vielleicht doch eine seltene Infektionskrankheit?" Jerome Boateng und Bastian Schweinsteiger drohen vor dem England-Spiel auszufallen, zumindest den Mannschaftsausflug in einen Löwenpark vor dem Duell gegen die Three Lions verpassten die Rekonvaleszenten. Der Bundestrainer stärkt prophylaktisch dem Ersatz den Rücken: "Selbst eine Änderung des fixen 4-2-3-1-Systems wollte er nicht gänzlich ausschließen, tendiert aber eindeutig mehr dazu, Schweinsteiger durch Toni Kroos zu ersetzen. Der 20-Jährige hatte schon gegen Ghana einige Minuten für den Münchner gespielt und seine Sache gut gemacht. 'Ich hatte nie das Gefühl, dass er nervös werden könnte, und technisch hat er so viele Möglichkeiten', lobte Löw, 'ich kann mir gut vorstellen, dass Toni Kroos an Schweinsteigers Stelle spielt.'"

Kein Krieg in der Presse

Matthias Thibaut und Joachim Huber (Tagesspiegel) freuen sich über versöhnliche Töne von der Insel. Denn im Vorfeld des Klassikers Deutschland gegen England wird ordentlich mit dem verbalen Säbel gerasselt, Kriegsmetaphern bleiben jedoch außen vor. "Die WM 2006 war ein Durchbruch - für Deutschland, aber auch für die englischen Fans." Noch zehn Jahre zuvor, bei der Euro 96 beschrieben Mirror, Daily Mail und Sun "deutsche Fußballer als 'Krauts' mit Stahlhelmen und Pickelhauben und machten sich mit Schlagzeilen wie 'Achtung! Surrender' oder 'For you Fritz ze Euro 96 Championship is over' Mut." Jetzt heiße es in den Boulevardzeitung nur noch "Herr we go again" oder "Nun bringt uns die, äh, Deutschen".

2006 war er noch der Unsicherheitsfaktor in der Defensive. Jetzt lobt Michael Ashelm (FAZ.net) Arne Friedrich als "großen Stabilisator." "Er ist bislang die größte Überraschung und vielleicht auch der größte Gewinner im deutschen Team. Während er in der Vergangenheit oft in der Kritik stand, nicht genug Qualitäten für die Defensivaufgaben auf hohem internationalen Niveau zu besitzen und daher in der Öffentlichkeit zu großen Anlässen eher mitleidig behandelt wurde, wird er nun in Südafrika seinem Ruf als Stehaufmännchen auf besonders eindrückliche Weise gerecht. Oft schon abgeschrieben, aber immer wieder zurückgekommen." Dem Innenverteidiger, der den Absteiger Hertha BSC Berlin nach der WM verlassen wird, sei im Achtelfinale auch die Bewachung Rooneys zuzutrauen. Der Vergleich mit einem Weltmeister liegt nach der überzeugenden Leistung gegen Ghana auf der Hand: "In manchen Momenten fühlte man sich an die Rolle von Guido Buchwald von 1990 erinnert."

Schweizer Defensivstärke reicht nicht

Gewohnt nüchtern betrachtet Perikles Monioudis (NZZ) das Ausscheiden der Eidgenossen nach einem 0:0 gegen Honduras. "Sie scheiterten letztlich in der WM-Gruppenphase. Vor der WM hatte die Fußballschweiz nichts anderes erwartet. Nach dem Aus an der WM nun überwiegt das Unbehagen darüber, dass das Schweizer Team zwar gegen große Gegner aus der Defensive agieren, gegen Gegner in Reichweite aber nicht auftrumpfen kann." Doch anstatt Konsequenzen zu fordern, bleibt man in Zürich eher ruhig und gelassen: "Gegen den in seinen Mitteln bescheidenen Gegner aus Zentralamerika war dem Schweizer Team nach dem allzu tastenden Beginn zwar anzumerken, dass es den Erfolg wollte. Doch seine Möglichkeiten in der Offensive erwiesen sich als nicht ausreichend." Zwei starke defensive Leistungen gegen Spanien und Chile hätten eben diese Angriffsschwäche der Nati übertüncht, die im Spiel gegen Honduras zum Vorschein gekommen sei.

Vom Boulevard weht ein anderer Wind. Andreas Böni und Max Kern (Blick) trauern der verpassten Chance hinterher: "Es ist traurig. Es ist zum Heulen. Geschlagen liegen die Helden nach dem Spiel auf dem Feld. Steve von Bergen schlägt sich die Hände vors Gesicht, einige sind den Tränen nahe. Das große Ziel, es ist verpasst. Wir müssen nach Hause fliegen." Nach dem Sieg gegen Spanien und der Niederlage gegen Chile bleibt nur ein Weltrekord: 558 Minuten war die Schweiz bei der WM ohne Gegentor, das letzte Tor kassierten die Eidgenossen 1994 in den USA. "Trotz des Frusts dürfen wir nicht alles schwarz sehen. Die Nati hat uns bei dieser WM auch viel Freude bereitet."

Roland Zorn (FAZ.net) attestiert der Schweiz fehlenden Mut: "Die Verkrampfung war zu groß, alle Spieler aus Hitzfelds Team wirkten mit der Tagespflicht, Tore schießen zu müssen, überfordert. Die Chance war da, aber die Mittel reichten nicht aus. Als die Schweiz ins Achtelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft hätte stürmen sollen, kam sie nie richtig in Fahrt." Das 1:0 gegen Europameister Spanien, die Überraschung des Turniers, sei lediglich ein Trostpreis. Es fehle der Schweiz vor allem an Qualität.

Ein gehemmter Europameister und zerrissene Franzosen

Trotz des Weiterkommens sorgt sich Matti Lieske (FR) um Europameister Spanien. Die Favoritenrolle scheine die Mannschaft zu lähmen. Nur Villa und Fabregas seien "Lichtblicke im Spiel der Spanier, das nach wie vor gehemmt und unstrukturiert wirkte. Immerhin: das Schicksal von Weltmeister Italien blieb dem Europameister erspart. Um die Ambitionen erfüllen zu können, mit denen Spanien nach Südafrika gereist war, muss sich die Mannschaft jedoch gewaltig steigern." Am Ende gab es dennoch die nötigen drei Punkte und das Achtelfinale gegen Nachbar Portugal. Jetzt müsse vor allem Fernando Torres seine Klasse zeigen: "Der Stürmer wirkt wie eine groteske Karrikatur des Angreifers, der das EM-Finale gegen Deutschland entschieden hatte."

Im Interview mit Peter Unfried (taz) überträgt Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit die Krise der französischen Nationalmannschaft auf die Probleme in der Gesellschaft des Landes: "1998 war Frankreich eine Gesellschaft, die zusammenfinden wollte. Heute ist sie eine völlig zerstrittene Gesellschaft, die auseinanderfällt. Die Mannschaft spiegelt die Zerrissenheit, den Hass und den Neid dieser Gesellschaft. Im französischen WM-Team waren Spieler, die nicht miteinander wollten. So ist es auch in der Gesellschaft." Für Nicolas Anelka aber auch Franck Ribery findet der Grünen-Politiker kritische Worte: "Anelka sagt: Ich will in Frankreich nicht spielen, weil man da zu viel Steuern bezahlen muss. Der Mann ist auf einem absoluten Egotrip, aber das ist seine Sache. Nur: So kann man keine Mannschaft für eine WM formen. Aber ich meine auch Franck Ribéry. Der ist jung, spielt Fußball und Playstation und macht ab und zu das, was junge Männer machen, wenn sie keine Orientierung haben. Es ist ja kein Zufall, welche Spieler öfter im gleichen Puff waren. Die werfen es den anderen sogar vor, wenn sie nicht mitgehen. Das ist Kulturkampf. Diese Spieler haben kein gemeinsames Projekt. Für sie war die Nationalmannschaft nur eine Möglichkeit, den Marktwert zu steigern." Wenigstens gehe es in Deutschland nicht so weit: "Diese Özils haben lange gezögert, für Deutschland zu spielen. Das gesellschaftliche System muss attraktiv sein. Im Moment gibt es eine Bewegung von jungen Migranten, die Deutsche werden wollen. Da ist Hoffnung. Das sind die Nachwirkungen der rot-grünen Staatsbürgerrechtsreform."

Ballacks Comeback in der Bundesliga

Richard Leipold (FAZ.net) freut sich über die Rückkehr des beliebtesten deutschen Spielers in die Bundesliga. "Für Ballack bietet sich mit dem Wechsel nach Leverkusen die Chance, sich auch gegen Ende seiner Karriere bei einem vielbeachteten Bundesligaklub wieder für die Nationalelf zu empfehlen, falls er das anstrebt." Von dem Transfer verspricht sich nicht nur Coach Jupp Heynckes viel: "Leverkusen hatte in der vergangenen Saison mit Leverkusen lange an der Spitze gestanden, in der Rückrunde aber die Meisterschaft und die Qualifikation für die Champions League verpasst, weil es offenbar an Substanz und vor allem an Führungsstärke innerhalb der Mannschaft fehlte. Diese Lücke soll der Rückkehrer nun füllen."

Karlheinz Wagner (FR) empfindet den Ballack-Wechsel vor allem als Aufwertung der Marke Bayer Leverkusen. "Was wirkt wie ein Rückfall in die Geldkoffer-Zeiten des Werksklubs ist ironischerweise genau das.'Die Ballack-Verpflichtung können wir aus Haushaltsmitteln nicht stemmen', gibt Holzhäuser zu, der Bayer-Konzern habe das Interesse an Ballack aber von Beginn an geteilt und getragen. Und so muss der Klub die Millionen nicht aus dem laufenden Etat bereit stellen, sondern die Bayer AG investiert in den Image-Faktor Ballack. 'Es gibt in Deutschland drei Spieler mit einem rundum positiven Image', sagt Holzhäuser und zählt auf: 'Beckenbauer, Völler und Ballack. Beckenbauer bekommen wir nicht'. Völler haben sie schon."

Die Bundesliga trauert

Thomas Kilchenstein (FR) trauert um den verstorbenen Trainer Jörg Berger und beschreibt eine der zahlreichen Anekdoten aus dem Leben des gebürtigen Leipzigers: "In Frankfurt gibt es eine Berger Straße. Sie beginnt in der Stadtmitte und verbindet das Nordend mit Bornheim, zwei der angesagtesten Stadtteile der Mainmetropole. Als der Trainer Jörg Berger 1999 Eintracht Frankfurt in einem furiosen Finale vor dem Abstieg bewahrt hatte, mit jenem dramatischen Wimpernschlagfinale und einem 5:1 gegen dem 1.FC Kaiserslautern, haben noch in der gleichen glückseligen Nacht ein paar Eintracht-Fans über das Straßenschild den Zusatz 'Jörg' auf Pappe angebracht − nun gab es eine 'Jörg-Berger-Straße'."

Keine Heldentat von Heldt

Thomas Haid (Stuttgarter Zeitung) verabschiedet VfB-Manager Horst Heldt mit markigen Worten nach Gelsenkirchen. "Der Lehrling macht eine Ausbildung. Wenn diese vorbei ist, rückt er auf und wird als vollwertige Arbeitskraft übernommen. Aber er wird das Gefühl nicht los: Stift bleibt Stift. Er fühlt sich nicht anerkannt und kündigt, um die Stelle wechseln zu können. In diesem Fall ist Horst Heldt der Stift und der VfB die Firma." Der Zweifel an Heldt bleibt, trotz Meisterschaft 2007: "Schalke hat kein Geld und zahlt trotzdem hohe Gehälter. Deshalb gibt es einen riesigen Schuldenberg. Zudem wäre Heldt nur der Wasserträger von Magath. In Stuttgart ist er der Sportchef. Wenigstens hätte er auch auf Schalke einen Sitz im Vorstand. In dieser Funktion muss er eigentlich eine Bilanz lesen können. Ob er sich die auf Schalke vor seiner Entscheidung angeschaut hat, ist angesichts der deprimierenden roten Zahlen ungewiss. Oder ist ihm das gar nicht aufgefallen? So oder so ist der bevorstehende Abgang keine Heldentat."

Auch Klaus Schlütter (Welt) sieht im Wechsel des Stuttgarters ein finanzielles Interesse. "Mit Christian Gentner kommt nur ein gestandener Neuer, sonst sollen junge und "billige" Spieler die entstandenen Lücken füllen. Da kam für Heldt das neuerliche Angebot gerade recht. Zumal er auf Schalke doppelt so viel verdienen kann wie beim VfB, rund drei Millionen Euro." Für die Nachfolge gibt es zwei Kandidaten mit Stallgeruch: "Ex-Stürmer Fredi Bobic (38), der mit Krassimir Balakov und Giovane Elber einst das berühmte "Magische Dreieck" bildete, und Andreas Müller (48). Der ehemalige Schalker Manager, der am 9. März beurlaubt wurde, ging aus der VfB-Jugend hervor und bestritt 111 Bundesliga-Spiele, bevor er über Hannover 1988 zu den Königsblauen wechselte."

Presseschau zusammengestellt von Matthias Nedoklan und Jens Behler.

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