WM 2010: Presseschau:Das Jahrhundertspiel der Rasselbande

Die Presse geizt nicht mit Superlativen und schreibt die Nationalmannschaft nach dem 4:1-Erfolg gegen England in die Geschichtsbücher. Sie ist außerdem einem Fahnen-Kampf in Kreuzberg auf der Spur.

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Zum Wesen eines Fußballklassikers gehöre es, dass man auch Jahre, ach was: Jahrzehnte nach dem Spiel von ihm spricht. Michael Rosentritt (Tagesspiegel) ist sich sicher: "Das Achtelfinale der Weltmeisterschaft 2010 zwischen Deutschland und England bringt alles mit, um als Fußballklassiker in die Geschichte einzugehen."

Ein "Jahrhundertspiel" hat Jan Christian Müller (FAZ) gesehen. Die deutsche Mannschaft habe sich einen großen Kredit erspielt: "Egal, was nun noch kommt in Südafrika, ob der Sieg gegen Argentinien gelingt oder nicht: Diese noch unverbrauchte Rasselbande, die in ihrer Ausstrahlung so wenig machomäßig rüberkommt wie eine Turnriege auf Sommerfreizeit, hat sich überaus beliebt gemacht. Außer in England."

Dort nimmt sich die Presse mit Anfeindungen gegen Jorge Larrionda zurück, den Schiedsrichter aus Uruguay, der das klare Tor von Frank Lampard nicht sehen wollte. Stattdessen steht das eigene Team in der Kritik: "Heute Morgen muss die Nation keine abgekauten Fingernägel verarzten", kommentiert der Guardian. "Anders als in den Jahren 1990, 1996 und 2006, als England jeweils im Elfmeterschießen aus dem Turnier ausschied, fragen wir uns, wie diese plutokratischen Playboys für Englands schlimmste Niederlage sorgen konnten. (...) Das nicht gegebene Tor mag Futter für Verschwörungstheorien und ein weiteres Argument für die Einführung des Videobeweises sein, doch die schmerzhafte Wahrheit ist: Jedes Team muss Fehlentscheidungen verkraften. Die 4:1-Niederlage gegen Deutschland folgte auf eine schwache Gruppenphase. Es ist Zeit, tiefgründigere Fragen zu stellen."

Ein Erfolg von unschätzbarem Wert

"Wie Müller, Khedira, aber auch die erfahrenen Schweinsteiger und Klose die 'Three Lions' in dieser aus deutscher Sicht hochklassigen Partie durcheinanderschüttelten, war mehr als erstaunlich", gibt sich Roland Zorn (FAZ) entzückt. Den Vorteil der Engländer, bei einem solchen "Endspiel" knapp im Vorteil zu liegen, konnte er nicht erkennen: "Tatsächlich legte die Elf von Bundestrainer Löw ihre erste große internationale Reifeprüfung ab - und bestand sie summa cum laude."

"Thomas Müller ist der coolste von allen." Steffen Dobbert (Zeit Online) hat im deutschen Doppeltorschützen die "Blaupause für die gesamte Auswahlmannschaft des Jahres 2010" ausgemacht: Äußerst talentiert, erfreulich unbekümmert und überraschend jung lauteten die prägenden Eigenschaften des Teams. "Eine Mannschaft ist dann intakt, wenn die Mischung stimmt: zwischen laut und leise, zwischen frech und seriös und zwischen alt und jung. Das Interessante am Nationalteam ist, dass die wichtigsten Spieler - Philipp Lahm (26), Bastian Schweinsteiger (25), Mesut Özil (21) - zwar Erfahrung haben, aber die wertvollsten Jahre ihrer Karriere noch vor sich haben."

"So schön wie in der ersten Woche wird es nicht mehr werden. Die große Partylaune in Südafrika ist vorbei", meint Christian Kamp (FAZ.net). Umso wichtiger sei der Einzug Ghanas ins Viertelfinale der WM: "Bei allem Drumherum, das eine solche Megaveranstaltung erfordert, geht es für die meisten Menschen jedoch vor allem um eines: um den Sport und um die Emotionen, die damit verbunden sind. Und in dieser Hinsicht ist der Erfolg zumindest einer afrikanischen Mannschaft ein nicht hoch genug zu schätzender Wert. Auch wenn das aus europäischer Perspektive überraschen mag: Nach allem, was man in Südafrika hört und sieht, wird der Erfolg Ghanas tatsächlich als einer für den ganzen Kontinent gesehen."

Blatter, der Rattenfänger von Hameln

Im Hinterland von Pretoria hat Thomas Scheen (FAZ) Afrikaans sprechende Buren getroffen. Die Nachfahren hugenottischer französischer Siedler hatten Südafrika zusammen mit den Auswanderern aus den Niederlanden einst urbar gemacht, sich blutige Kriege mit den britischen Kolonialherren geliefert und die Apartheid eingeführt. Bis heute pflegen sie ein gespanntes Verhältnis zur schwarzen Regierung des Landes. Am Rande der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika stellt Scheen fest, dass das Großereignis die Rassenkonflikte nur für kurze Zeit überdecken kann: "Dieses Wir-Gefühl, das mit der Weltmeisterschaft einhergeht, wird verblassen, sobald das Turnier zu Ende ist", zitiert Scheen Alana Bailey, die stellvertretende Leiterin von AfriForum, einer Nichtregierungsorganisation, die sich dem Schutz der afrikaanssprachigen Gemeinschaft verschrieben hat. Nach dem Ende der Apartheid habe sich bei vielen das Gefühl verfestigt, es gehe nur um Rache. "Seit 1997 sind ausweislich der Polizeistatistiken 2100 weiße Farmer beziehungsweise Angehörige ihrer Familien ermordet worden. Die Aufklärungsquote liegt bei zehn Prozent." Die Buren lebten in Angst und an Demagogen auf beiden Seiten fehle es nicht. Dass der große Versöhner Fußball indes das Land zusammenbringen könne, glauben viele Buren trotz ihrer Freude an der Weltmeisterschaft keine Sekunde: "Nach dem Abpfiff wird hier alles sein wie immer."

Auch David Signer (Neue Zürcher Zeitung) ist sich sicher, dass die Fußball-WM das Bild Afrikas nicht grundlegend verändern wird: "Die Fifa hält Fussball für ein Allerweltsheilmittel. Die WM in Südafrika würde den Schwarzen Kontinent endlich aus den Negativschlagzeilen katapultieren, lautete das Credo. Sie würde, wie ein magischer Magnet, nicht nur Millionen von Fans und Heerscharen von Investitionen anziehen, sondern auch die Sympathien des ganzen Universums." Die Wahrheit sehe prosaischer aus: "In ein paar Jahren, wenn die überdimensionierten Stadien ungenutzt vor sich hin motten, werden einem beim Stichwort 'WM in Südafrika' wahrscheinlich vor allem noch die Vuvuzelas durch den Kopf gehen." Die Fussballbegeisterung der Jungen von Dakar bis Dar es Salaam werde derweil ungebrochen bleiben. "Ist das wirklich so positiv?" fragt Signer. "Millionen von barfüssigen Kindern in den Armenvierteln träumen davon, ein zweiter Eto'o oder Drogba zu werden. Wozu noch in die Schule? Besser auf einen weissen Scout warten, der einen ins Paradies nach Europa holt. In diesem Sinne ist Sepp Blatter kein Entwicklungshelfer, eher eine Art Rattenfänger von Hameln."

Feldzug gegen die Fähnchen

Was das neue Staatsbürgerrecht mit dem Erfolg der deutschen Nationalmannschaft zu tun hat, erklärt Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) und erinnert an eine "bemerkenswerte Szene" im Wahlkampf 1998. Manfred Kanther, der CDU-Innenminister, und Otto Schily, der bald darauf für die SPD das Amt übernehmen sollte, standen sich im TV-Duell gegenüber. "Schily warb für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die die Einbürgerung erleichtern sollte. Er beschied Kanther: 'Wenn Sie das tun, dann können wir auch wieder Fussballweltmeister werden.'" So wie Frankreich "mit einer multiethnischen Equipe um Zinedine Zidane" wenige Monate zuvor. 2010 sind 11 von 23 deutschen Nationalspielern sogenannte Secondos. Ob der Fussball die Integration tatsächlich erleichtert? Die zwiespältige Antwort lässt Osterhaus den Soziologe Gerd Dembowski geben: "Fussball ist die Integrations-Maschine, das impliziert so ein bisschen, wir werfen da einen Ball rein, und alles ist gut. Aber so ist es nicht, weil jeder Mensch eine andere Geschichte mit an den Ball bringt."

"Ist das nicht eine verkehrte Welt?", fragt der 50-jährige Libanese vor seinem Falafel-Restaurant an der Sonnenallee, den Tagesspiegel-Autor Christoph Stollowski trifft. "Deutsche Autonome zerstören Türken und Arabern die schwarz-rot-goldenen WM-Fahnen." Stollowski berichtet, die linksradikale Szene habe offenbar einen Feldzug gegen die WM-Fahnen gestartet - und sei besonders in jenen Berliner Kiezen von Neukölln und Kreuzberg aktiv, in denen viele Menschen mit ausländischen Wurzeln leben. Besonders zugespitzt habe sich der Streit um die WM-Fahnen vor einem Elektrogeschäft: "Dort haben Ibrahim Bassal und seine Freunde vor dem Spiel der deutschen Nationalelf gegen Ghana eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne entrollt. Sie reicht vom fünften Stock fast bis zum Parterre hinab. Kaum geschehen, seien junge Leute aggressiv in seinen Laden gekommen und hätten ihm vorgeworfen, er fördere den Nationalismus und wecke wieder Nazigefühle in den Deutschen, erzählt Bassal und kontert: 'Wir leben und arbeiten seit Jahrzehnten in Berlin, unsere Kinder sind hier geboren. Wo ist das Problem? Ist doch klar, dass wir zu Deutschland halten. Was hat das mit den Nazis zu tun?'"

Presseschau zusammengestellt von Tobias Reitz

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