WM 2010: Philipp Lahm:"Man darf auch sagen, was gut läuft"

DFB-Kapitän Philipp Lahm über Ratschläge für den Bundestrainer, das Aussterben dominanter Chefs auf dem Platz, kleine Wirbler und schwere WM-Gegner.

Interview: Christof Kneer und Ludger Schulze

SZ: Herr Lahm, darf man jetzt "Capitano" zu Ihnen sagen?

Philipp Lahm angeblich neuer Kapitaen der Nationalmannschaft

"Auf dem Feld muss jeder führen - im Rahmen seiner Position": Kapitän Philipp Lahm, 26, im DFB-Trainingslager.

(Foto: ag.ddp)

Lahm: Wenn ich ehrlich bin: lieber nicht. Der Begriff "Capitano" (eine Erfindung von Jürgen Klinsmann bei der WM2006, d. Red.) stammt aus einer Zeit, die für mich abgeschlossen ist.

SZ: Wie darf man Sie dann nennen: Kapitän? Spielführer?

Lahm: Am liebsten einfach Philipp.

SZ: Ist diese Rolle des DFB-Kapitäns denn kein Statussymbol für Sie? Sie stehen jetzt in einer Reihe mit Fritz Walter, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus, Oliver Kahn, Michael Ballack.

Lahm: Kapitän der deutschen Nationalmannschaft zu sein, ist eine große Ehre, erst recht, weil ich erst 26 bin. Aber Kapitän zu werden, ist nichts, was man sich als Karriereziel vornimmt.

SZ: Können Sie Wimpel tauschen?

Lahm: Keine Sorge, das krieg' ich hin. In der Champions League tauscht man auch Wimpel, da hab ich das schon ein paarmal gemacht. Und bei der Nationalmannschaft war ich in einem Spiel gegen China schon mal Kapitän. Da ging auch alles glatt.

SZ: Haben Sie noch weitere KapitänsErfahrung?

Lahm: Gegen England habe ich die Binde mal übernommen, von Bernd Schneider, zwei oder drei Minuten vor Schluss. Und sonst? Zum letzten Mal Kapitän war ich, glaube ich, bei der FTGern, da war ich zehn oder elf Jahre alt. Obwohl, halt: Bei einem A-Jugendfinale mit dem FC Bayern hatte ich die Binde auch mal, 2002 muss das gewesen sein, bei einem 4:0 gegen den VfB Stuttgart.

SZ: Respekt.

Lahm: Aber wenn ich ehrlich bin, war ich da nur Ersatzkapitän. Markus Husterer hatte sich verletzt.

SZ: Ist es für den ehemaligen Ersatzkapitän eines A-Jugend-Endspiels nicht eine Belastung, wenn er plötzlich Deutschland bei einer WM aufs Feld führt und dauernd die Namen seiner berühmten Vorgänger lesen muss?

Lahm: Die Vergangenheit darf nicht mehr mein Maßstab sein. Es hat sich so viel verändert. Es ist nicht mehr so wie früher, dass ein einziger Spieler führen muss, dass der den Chef macht und die anderen hinterher rennen.

SZ: In Deutschland wird der Kapitän in der Öffentlichkeit aber immer noch so begriffen. Definieren Sie doch mal, wie Sie die Kapitänsrolle im modernen Fußball interpretieren.

Lahm: Es geht vor allem um Kommunikation. Man kommuniziert mit dem Trainer und vertritt dabei das Interesse der Mannschaft. Aber da bin nicht nur ich verantwortlich, nicht ohne Grund hat der Trainer bei der Bekanntgabe der Entscheidung auf der Pressekonferenz als erstes auf den Mannschaftsrat hingewiesen. Ich werde engen Kontakt suchen zu Bastian Schweinsteiger, zu Miro Klose, Arne Friedrich, Per Mertesacker. Wir diskutieren die Anliegen der Mannschaft, und ich bin am Ende der, der es dem Trainerstab übermittelt.

SZ: Was heißt das konkret? Gehen Sie zum Trainer und sagen: Die Mannschaft möchte heute nicht so hart trainieren, sondern lieber Fünf-gegen-zwei spielen?

Lahm: Es geht weniger darum, die Mannschaft vor irgendwas zu schützen oder gegen irgendwen zu verteidigen. Es geht darum, in die Mannschaft hineinzuhören und dem Trainer zu sagen, wie die Mannschaft tickt, welches System sie gerne spielen würde. Natürlich ist das am Ende die Entscheidung des Trainers, aber ein Austausch ist immer positiv. Deshalb habe ich mich schon immer mit meiner Meinung eingebracht.

SZ: Gestattet der Trainer denn solche Eingriffe in sein Ressort?

Lahm: Er verlangt das sogar. Joachim Löw legt Wert darauf, dass er von der Mannschaft ein Feedback bekommt. Und mein Kontakt zum Trainer war in dieser Hinsicht immer gut, das hat sich in den letzten Jahren immer weiter entwickelt. Deshalb ändert sich für mich gar nicht so viel: Ich werde eben noch mehr als bisher ins Team hineinhorchen und ich werde noch häufiger zum Trainer gehen. Bisher hat das meistens Michael Ballack gemacht.

Nicht in die Zentrale

SZ: Sie sehen Ihre Aufgaben also eher außerhalb des Platzes. Sie wollen nicht mehr der Kapitän sein, der auf dem Feld einen Reizpunkt setzt, wie das in der Fußballsprache heißt.

Lahm: Auf dem Feld kann doch erst recht nicht einer allein führen. Da muss jeder führen, jeder im Rahmen seiner Position.

SZ: Sind Sie sich bewusst, dass Sie damit der erste moderne Kapitän in der DFB-Geschichte sind?

Lahm: Ich finde das völlig normal. Schauen Sie sich doch mal die Kapitäne in der Bundesliga an oder erst recht in anderen Ländern: Es gibt den einen, den dominanten Chef nicht mehr.

SZ: Werden Sie Ihr Auftreten gegenüber der Mannschaft verändern?

Lahm: Mein Auftreten nicht, aber eines betrachte ich schon als meine Aufgabe: Als Kapitän muss ich den jungen Spielern Sicherheit und Selbstvertrauen vermitteln. Man muss sich mal die Vergangenheit der deutschen Turniermannschaften anschauen: Selbst 1990, als die Nationalmannschaft wirklich gute Spieler hatte, hat sie viel von ihrer Emotion gelebt, von ihrem Willen, etwas reißen zu können. Spieler wie Matthäus und Klinsmann haben das einfach ausgestrahlt, und so etwas brauchen wir jetzt auch.

SZ: Sie wollen den Klinsmann machen?

Lahm: Auf andere Art, aber wir erfahreneren Spieler müssen das vorleben, gerade bei unserem aktuellen Kader. Wir haben ja auch im Spiel gegen Ungarn (3:0, siehe Bericht unten) wieder gesehen, dass wir viele Spieler dabei haben, die nicht mehr typisch deutsch spielen, sondern eher flinke, kleine Wirbler sind.

SZ: Wie Özil, Marin, Trochowski, Kroos, Cacau, auch Müller.

Lahm: Ja, und wenn die mit der richtigen Überzeugung ans Werk gehen, können wir bei der WM weit kommen. Unsere deutschen Fähigkeiten haben wir ja nach wie vor, entscheidende Tore können wir immer noch besser schießen als andere, und dazu kommen jetzt diese neuen Möglichkeiten. Meine Aufgabe ist es, den Mitspielern das Gefühl zu geben, dass aus dieser Mischung etwas entstehen kann.

SZ: Bei der EM 2008 entbrannte ein teaminterner Streit, weil die Mannschaft die Ansprache von Kapitän Michael Ballack zu negativ fand. Auch Sie gehörten damals zu den Ballack-Kritikern. Wird man vom Kapitän Lahm einen anderen Tonfall hören?

Lahm: Ich bin ein positiver Mensch, und ich bin auch überzeugt davon, dass eine Gruppe in erster Linie über eine positive Ansprache funktioniert. Natürlich muss man auch Fehler deutlich ansprechen, das ist sogar sehr wichtig. Aber man darf ruhig auch mal sagen, was gut läuft. Auch das ist etwas, was sich in der Mannschaftsführung im Vergleich zu früher ein bisschen geändert hat.

SZ: Haben Sie eigentlich schon einen Kasten Bier ausgegeben?

Lahm: Nein, wieso?

SZ: In der Bezirksliga macht man das doch, wenn man neuer Kapitän wird.

Lahm: Ich glaube, bei der Nationalmannschaft macht man das eher nicht. Ich werde nichts Besonderes machen, auch keine Rede halten in der Kabine oder so.

SZ: Was wird eigentlich passieren, wenn Michael Ballack im Herbst - unter welchem Bundestrainer auch immer - ins DFB-Team zurückkehrt?

Lahm: Ich gehe davon aus, dass er dann wieder unser Kapitän sein wird. Ich bin es jetzt erstmal bei der WM, solange Michael nicht da ist.

SZ: Auf welcher Position wird der Kapitän Lahm denn bei der WM spielen?

Lahm: Das weiß ich noch nicht.

SZ: Denkbar sind ja drei Positionen.

Lahm: Drei?

SZ: Rechter Verteidiger, linker Verteidiger und die Position Nummer sechs. Da haben Sie in einem Testspiel in England mal geglänzt, und genau dort hat die Nationalelf nach Ballacks Ausfall große Sorgen.

Lahm: Ich sehe meine Fähigkeiten als Außenverteidiger am besten aufgehoben.

SZ: Reizt Sie die Zentrale gar nicht? Sie waren damals wirklich gut...

Lahm: Das war ja nur ein einziges Spiel. Wenn ich mehrere da machen würde, wäre vielleicht auch mal ein schlechteres dabei. Aber im Ernst: Auf Sicht gesehen kann ich mir die Zentrale schon vorstellen, in ein paar Jahren vielleicht, aber im Moment glaube ich, dass Außenverteidiger zu meinem Stil am besten passt.

SZ: Kann es sein, dass Löw Ihnen als Kapitän die von Ihnen etwas weniger geliebte Linksverteidiger-Rolle schmackhaft machen wird? Nach dem Motto: Als Chef musst Du Dich fürs Team opfern?

Lahm: Das kann sein. Aber es wird wohl wieder von meinem Gegenpart abhängen. Findet der Trainer eine gute Lösung für links, dann spiele ich rechts. Und umgekehrt.

"Unser Team muss üben"

SZ: Als Kapitän dürfen Sie jetzt öffentlich die Perspektive bei der WM einschätzen. Wie weit kommt Deutschland?

Lahm: Ich denke, das realistische Ziel heißt Halbfinale. Das Potential hat die Mannschaft, sie muss nur dran glauben. Die Vorrunde ist allerdings nicht ohne, das muss man ganz klar sagen.

SZ: Eine gemütliche Warmspielphase wie 2006 könnte diesmal entfallen.

Lahm: Unser erster Gegner damals war Costa Rica, da konnte man sich auch ein paar Schwächen leisten. Australien dagegen ist viel zäher, körperlich sehr stark. Die Gruppe diesmal ist viel, viel schwerer - das sind drei Gegner, gegen die man in einem einzelnen Spiel auch mal verlieren kann.

SZ: Zumal die deutsche Elf schwer einzuschätzen ist - und einen etwas anderen Charakter hat als frühere DFB-Teams.

Lahm: Das stimmt. Diese Mannschaft hat ihre Stärken sicherlich im spielerischen Bereich, wir haben viele junge Spielertypen dabei, die den Ball gern am Fuß haben, die eine saubere Technik haben. Und die Mannschaft ist torgefährlich, wir haben viele Spieler mit einer guten Schuss- und Kopfballtechnik.

SZ: Als Kapitän dürfen Sie auch die Schwächen benennen.

Lahm: Was ich immer sage: Wir müssen noch besser verteidigen. Wir lassen immer noch zu viele Torchancen zu. Aber ich denke, dass wir das bis zum Turnier hinbringen. Das war zuletzt ja immer so: Wenn wir zehn Tage zusammen waren, haben wir besser gespielt, als wenn wir drei Tage zusammen waren. Wir sind nicht die besten Fußballer oder Einzelkönner, wir müssen als Mannschaft unsere Qualitäten umsetzen. Und dazu brauchen wir Zeit. Unser Team muss üben.

SZ: Das Trainingslager ist aber fast zu Ende.

Lahm: Man muss die erste Woche in Südafrika als Trainingswoche mitrechnen. Da wird die endgültige Feinabstimmung passieren. Und ich vertraue dem Trainer, dass er es auch diesmal wieder hinbekommen wird.

SZ: Was kann der deutsche Bundestrainer vom Erfolgsmodell der letzten Saison, dem FC Bayern, übernehmen?

Lahm: Wenn ich ehrlich bin: nicht viel. Man kann weder die Spielertypen noch die Philosophie vergleichen. Bei Bayern haben wir Typen wie Robben oder Ribéry, die das Spiel breit machen. Beim DFB haben wir Typen wie Mesut Özil, die lieber durch die Zentrale kommen. Und bei Bayern ist alles auf Dominanz und Ballkontrolle angelegt, beim DFB spielen wir eher abwartend, um dann schnell nach vorne und zum Abschluss kommen.

SZ: Wirkt die Niederlage im Champions-League-Finale noch nach?

Lahm: Die Enttäuschung ist noch da, wird aber mit jedem Tag weniger. Und mit dem Autokorso am Tag nach dem Finale hatten wir die beste Therapie.

SZ: Das müssen Sie erklären.

Lahm: Wir haben ja kurz überlegt, ob wir das alles absagen. Aber du kannst nicht Tausende einfach am Straßenrand stehenlassen. Also haben wir gesagt: Okay, da müssen wir durch. Wir sind losgefahren, alle schlecht gelaunt. Der Trainer am schlechtesten, aber ab der Münchner Freiheit standen plötzliche Tausende, die uns jeden Kilometer mehr aufgebaut haben. Man hätte die Mannschaft filmen müssen, als sie losfuhr und als sie am Marienplatz ankam. Am Marienplatz hatten wir das Champions-League-Finale fast gewonnen.

SZ: Im Herbst haben Sie dieser Zeitung ein vereinskritisches Interview gegeben. Ist jetzt alles wieder gut?

Lahm: Ich kann nur sagen, dass wir danach sehr, sehr erfolgreich Fußball gespielt haben.

SZ: Ein sehr diplomatischer Satz.

Lahm: Ich habe mir das Interview übrigens vor kurzem nochmal durchgelesen, mit dem Abstand eines Dreivierteljahres.

SZ: Und?

Lahm: Ich war zufrieden.

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