Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Gruppe D:Boatengs Käfig

Auf einem eingezäunten Betonplatz in Berlin begann einst die Karriere von Kevin-Prince Boateng. Auf Spurensuche im Wedding, der Heimat von Ghanas Mittelfeldspieler.

Claudio Catuogno

Vormittags ist der Käfig noch unbewohnt, nur die Pollen tanzen zwischen den Toren herum wie Plastikschneeflocken. Fast kitschig ist es hier um diese Tageszeit: ein Fußballplatz wie in einen Dschungel geschlagen. Mit Asphaltboden. Mitten in der Stadt. Menschenleer.

Von drei Seiten hangeln sich die Kletterpflanzen den Zaun empor, zehn, elf Meter hoch, darüber ist ein Netz gespannt, damit der Ball nicht rausfliegen kann. Der Anstoßpunkt stammt aus der Spraydose, die Tore sind aus Holz und Eisen, ohne Netz. In einer Ecke ist der einzige Ausgang in die Maschen geschnitten, und es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was aus diesem Fußballfeld wird, wenn jemand breitbeinig und mit grimmigem Blick den Durchgang versperrt: ein Raubtierkäfig.

Um 18 Uhr geht es los, erzählt man in den Gemüseläden in der Badstraße, wo der Berliner Stadtteil Wedding von einem kleinen Bach durchzogen wird, der Panke. Um 18 Uhr "auf der Panke".

Diesem Platz, sagt Kevin-Prince Boateng, "habe ich alles zu verdanken".

Es gibt ein paar Sprüche, die den Fußballer Kevin-Prince Boateng, 23, seit Jahren verfolgen, die ihm von Berlin nach Tottenham hinterhergereist sind, nach Dortmund, Portsmouth und jetzt nach Südafrika, wo Boateng am Mittwoch für Ghana gegen Deutschland spielen wird. Für das Land seines Vaters, das er noch nie betreten hat, gegen das Land seiner Mutter, von dem er sich heute verstoßen fühlt. Gegen das Land, für das bei der WM sein Halbbruder spielt, Jerome, 21. Einer der Sprüche lautet: "Ich komme aus dem Wedding. Da wird man Drogendealer, Gangster oder Fußballer."

Und um 18 Uhr kommen jetzt also die auf den Dschungelplatz, die keine Fußballer geworden sind.

"Was machst du?", fragt Ilhan, 25. "Zeitung, oder was?" Zeitung, das sind sie hier inzwischen gewöhnt. "Von der T.A.Z. war auch schon jemand da", sagt Burhan, 16. Von der taz? "Kann sein." Und Can, der Kleinste, sagt: "Hast du den Artikel in der Zeit gelesen? Der Ali, der da vorkam, der ist mein Freund."

"Das prägt einen schon"

Sie heißen Ilhan, Justin, Can, Bektas, Burhan, Ufuk, sie haben die gleiche Schule besucht wie Kevin-Prince Boateng, sie haben im gleichen Haus gewohnt, Schwedenstraße, Ecke Koloniestraße, manche haben noch mit ihm zusammen gegen den Ball getreten, hier auf der Panke, da war er schon bei Hertha BSC und spielte für die Jugendteams des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Ein Teil seines Ruhms fällt jetzt auf sie, und das ist schon etwas wert in dieser Ecke der Hauptstadt, die vor allem für eines berüchtigt ist: dass sie von allen vergessen wurde.

"Kevin war hier auch schon mit einem Fernsehteam, aber das ist ein paar Jahre her", sagt Burhan. "Das war cool." Das war, als Kevin-Prince Boateng um die Ecke seine alte Grundschule besucht hat, eine PR-Aktion der Hertha-Leute, und seinem ehemaligen Lehrer zurief: "Herr Bleimling, ich fahr' jetzt ein dickeres Auto als Sie!"

Auf der Panke haben sie drei Mannschaften gebildet, so viele sind um halb sieben schon da. Gangster und Drogendealer? Ufuk grinst. Burhan sagt: "Berlin ist scheiße, weißt du, 500 Bewerber für die Polizeischule, aber nur fünf haben sie genommen, und gar keinen für den höheren Dienst." Nächstes Jahr wird er sich noch mal bewerben. "Sonst geh' ich weg von hier, nach Hamburg oder Frankfurt." Can sagt: "Der Text in der Zeit, der war echt interessant."

Man kann Kevin-Prince Boateng vermutlich nicht ohne den Wedding erklären. Aber man sollte besser nicht den Fehler machen, den ganzen Wedding mit Kevin-Prince Boateng zu erklären.

Ein paar Straßen weiter sitzen die Zwillingsbrüder Hussein und Hassan El-Issa, 22, in einem Jugendhaus vor der Großleinwand, Schweiz gegen Chile. "So eine Geschichte wie mit den Boatengs", sagt Hussein, "die gab es ja noch nie." Zwei Halbbrüder, die bei einer WM aufeinandertreffen. Aber natürlich hat die Geschichte längst eine größere Dimension, es geht um Rache, Stolz, Ehre, Kevin-Prince Boateng war es ja, der dem DFB-Kapitän Michael Ballack mit einem Foul im englischen Cupfinale die WM-Träume zertrat. Deshalb muss jetzt Oliver Bierhoff, der Nationalelf-Manager, darauf hinweisen, dass man gegen Ghana spiele, nicht gegen Boateng; also keine Revanche-Fouls bitte. Und deshalb reden jetzt auch die beiden Halbbrüder nicht mehr miteinander, "wir haben uns gerade nichts zu sagen", sagt Jerome Boateng.

Doch über all dem hängt noch eine weitere Frage: ob man, wie Jerome, in einem bürgerlichen Stadtteil wie Wilmersdorf aufwachsen muss, um seinen Weg in die DFB-Elf zu finden, oder ob man es auch hier schaffen kann: im Wedding. Hussein El-Issa fragt sich das auch immer wieder: Ob es der Wedding ist mit seinen Kennzahlen - 30 Prozent Arbeitslosigkeit, 15:000 Straftaten im Jahr -, der die Leute zu dem macht, was sie sind. Oder ob es der Rest der Welt ist, der sie dazu macht.

Hussein ist fast jeden Tag im Jugendhaus, er hat einen Realschulabschluss, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, aber einen Job hat er nicht gefunden. Also leitet er hier das Fußballprojekt, ehrenamtlich, 40 Kinder kommen jede Woche. Gangster, Drogendealer, das ist von seinen Freunden keiner geworden, "alle haben die Kurve gekriegt", sagt er. Mit der Einschränkung, dass hinter der Kurve nichts auf sie gewartet hat außer Aushilfsjobs, Schwarzarbeit oder Hartz IV. "Das prägt einen schon", sagt Hussein El-Issa, "wenn man so überhaupt keine Chancen kriegt."

Immer gegeneinander gespielt

Kevin-Prince Boateng sagte diese Woche in einem Interview: "Die deutschen Funktionäre, die mich permanent kritisiert haben, können mir jetzt gerne bei der WM zuschauen. Vielleicht kommen sie zu der Ansicht, dass sie etwas falsch gemacht haben im Umgang mit mir."

Es ist eine Geschichte aus dem Sommer 2009, die dazu geführt hat, dass Kevin-Prince Boateng sich endgültig losgesagt hat vom DFB: Trainingslager vor der U21-EM, ein paar Spieler kommen nachts zu spät ins Hotel, der Trainer Horst Hrubesch verlangt eine Erklärung, aber Boateng will keinen verpfeifen. "Eine Frage der Ehre", findet er. "Das brachte das Fass zum Überlaufen", sagt Hrubesch. Aber da war schon allerlei vorgefallen, bei Hertha hieß es, Boateng terrorisiere die Kollegen mit seinem Wedding-Getue, statt "Könntest du das Fenster zumachen?" sagte er: "Opfer! Fenster!" Aus England kam später die Geschichte, wie er sich in einer Woche drei Autos gekauft hat, einen Lamborghini, einen Cadillac, einen Hummer. Boateng, so schien es, spielte permanent auf Bewährung beim DFB. Jetzt fuhr die U21 ohne ihn zum Turnier. Jerome wurde Europameister. Und Kevin-Prince teilte mit, er werde ab sofort für das Land ihres gemeinsamen Vaters spielen, für Ghana.

Früher sind sie manchmal zusammen hier gewesen, auf der Panke. Und Ufuk, der dabei war, erinnert sich: "Sie haben schon damals immer in verschiedenen Mannschaften gespielt. Immer gegeneinander." Abends ist Jerome dann wieder nach Wilmersdorf gefahren, wo er mit seiner Mutter in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebte, nicht weit vom Kurfüstendamm. Kevin-Prince ist hiergeblieben, im Wedding, der wie ein Käfig ist, in dem man verrückt werden kann. Oder arbeitslos. Oder berühmt. Wenn man sehr viel Glück hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.963868
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.06.2010/leja
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.