WM 2010: Gruppe D:Ungleiche Brüder

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Ein paar Straßen weiter sitzen die Zwillingsbrüder Hussein und Hassan El-Issa, 22, in einem Jugendhaus vor der Großleinwand, Schweiz gegen Chile. "So eine Geschichte wie mit den Boatengs", sagt Hussein, "die gab es ja noch nie." Zwei Halbbrüder, die bei einer WM aufeinandertreffen. Aber natürlich hat die Geschichte längst eine größere Dimension, es geht um Rache, Stolz, Ehre, Kevin-Prince Boateng war es ja, der dem DFB-Kapitän Michael Ballack mit einem Foul im englischen Cupfinale die WM-Träume zertrat. Deshalb muss jetzt Oliver Bierhoff, der Nationalelf-Manager, darauf hinweisen, dass man gegen Ghana spiele, nicht gegen Boateng; also keine Revanche-Fouls bitte. Und deshalb reden jetzt auch die beiden Halbbrüder nicht mehr miteinander, "wir haben uns gerade nichts zu sagen", sagt Jerome Boateng.

WM 2010 - Ghana Training

 "Sie haben schon damals immer in verschiedenen Mannschaften gespielt. Immer gegeneinander", sagt Ufuk über die Jugend der Boateng-Brüder in Berlin-Wedding. Heute abend treten sie in Südafrika gegeneinander an. 

(Foto: dpa)

Doch über all dem hängt noch eine weitere Frage: ob man, wie Jerome, in einem bürgerlichen Stadtteil wie Wilmersdorf aufwachsen muss, um seinen Weg in die DFB-Elf zu finden, oder ob man es auch hier schaffen kann: im Wedding. Hussein El-Issa fragt sich das auch immer wieder: Ob es der Wedding ist mit seinen Kennzahlen - 30 Prozent Arbeitslosigkeit, 15:000 Straftaten im Jahr -, der die Leute zu dem macht, was sie sind. Oder ob es der Rest der Welt ist, der sie dazu macht.

Hussein ist fast jeden Tag im Jugendhaus, er hat einen Realschulabschluss, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, aber einen Job hat er nicht gefunden. Also leitet er hier das Fußballprojekt, ehrenamtlich, 40 Kinder kommen jede Woche. Gangster, Drogendealer, das ist von seinen Freunden keiner geworden, "alle haben die Kurve gekriegt", sagt er. Mit der Einschränkung, dass hinter der Kurve nichts auf sie gewartet hat außer Aushilfsjobs, Schwarzarbeit oder Hartz IV. "Das prägt einen schon", sagt Hussein El-Issa, "wenn man so überhaupt keine Chancen kriegt."

Immer gegeneinander gespielt

Kevin-Prince Boateng sagte diese Woche in einem Interview: "Die deutschen Funktionäre, die mich permanent kritisiert haben, können mir jetzt gerne bei der WM zuschauen. Vielleicht kommen sie zu der Ansicht, dass sie etwas falsch gemacht haben im Umgang mit mir."

Es ist eine Geschichte aus dem Sommer 2009, die dazu geführt hat, dass Kevin-Prince Boateng sich endgültig losgesagt hat vom DFB: Trainingslager vor der U21-EM, ein paar Spieler kommen nachts zu spät ins Hotel, der Trainer Horst Hrubesch verlangt eine Erklärung, aber Boateng will keinen verpfeifen. "Eine Frage der Ehre", findet er. "Das brachte das Fass zum Überlaufen", sagt Hrubesch. Aber da war schon allerlei vorgefallen, bei Hertha hieß es, Boateng terrorisiere die Kollegen mit seinem Wedding-Getue, statt "Könntest du das Fenster zumachen?" sagte er: "Opfer! Fenster!" Aus England kam später die Geschichte, wie er sich in einer Woche drei Autos gekauft hat, einen Lamborghini, einen Cadillac, einen Hummer. Boateng, so schien es, spielte permanent auf Bewährung beim DFB. Jetzt fuhr die U21 ohne ihn zum Turnier. Jerome wurde Europameister. Und Kevin-Prince teilte mit, er werde ab sofort für das Land ihres gemeinsamen Vaters spielen, für Ghana.

Früher sind sie manchmal zusammen hier gewesen, auf der Panke. Und Ufuk, der dabei war, erinnert sich: "Sie haben schon damals immer in verschiedenen Mannschaften gespielt. Immer gegeneinander." Abends ist Jerome dann wieder nach Wilmersdorf gefahren, wo er mit seiner Mutter in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebte, nicht weit vom Kurfüstendamm. Kevin-Prince ist hiergeblieben, im Wedding, der wie ein Käfig ist, in dem man verrückt werden kann. Oder arbeitslos. Oder berühmt. Wenn man sehr viel Glück hat.

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