WM 2010:Frankreich versinkt im Chaos

Lesezeit: 4 min

In der französischen Nationalelf reiht sich ein Eklat an den nächsten. Das Team verteidigt seinen suspendierten Mitspieler Anelka und verweigert das Training, der Manager tritt zurück - und selbst Staatspräsident Sarkozy mischt sich ein.

Allein die Lebensläufe mancher Menschen liefern Hinweise auf ihren Charakter. Die Vita von Nicolas Anelka, 31, legt den Verdacht nahe, dass es sich um einen schwierigen, streitbaren Sportler handelt. In 13 Jahren hat der Stürmer für acht Vereine in vier Ländern gespielt, mal mit mehr, oft mit weniger Erfolg, trotz großer Befähigung: eine Achterbahnkarriere. 135 Millionen Euro Ablösegebühren sollen sich für Anelkas Transfers angehäuft haben, und schon früher wurden schräge Episoden erzählt.

Nun hat Anelka den ersten WM-Eklat angezettelt, und ebenso wenig überraschte, dass sich der Vorfall in einer fußballerisch wie atmosphärisch maroden Mannschaft ereignet hat: "Frankreich schickt Stürmer nach Hause. WM-Aus für Anelka!", titelten die Nachrichtenagenturen, unterlegt mit derselben Signalfarbe wie für Tsunamis oder verstorbene Staatsoberhäupter: knallrot, "Priorität 1".

Errötet sein soll auch mancher TV-Ansager, als er jene Zeile zitieren sollte, mit der das Pariser Sportblatt L'Équipe den Skandal ausgelöst hatte. Es lief die Halbzeitpause bei Frankreichs 0:2 am vorigen Donnerstag gegen Mexiko, als Trainer Raymond Domenech den erkennbar uninspirierten Anelka "bestimmt und genervt, aber in höflicher Form", wie es hieß, zu mehr Laufbereitschaft aufgefordert hatte. Der Gerügte, so der Bericht, konterte bestimmt und genervt und in mäßig höflicher Form, man verzeihe die Wiedergabe: "Fick dich in..., du Hurensohn". Oder so ähnlich.

Anelka dementiert

Oder nicht? "Das waren nicht meine Worte", dementierte Anelka (France Soir), bevor er am Sonntag die Teamunterkunft in Knysna verlassen musste. Dass die Story aber kein Science-Fiction-Beitrag war, sondern im Kern so stattgefunden hatte, das gestand sogar der Sünder. Anelka erinnerte sich an eine "lebhafte Unterredung" von zwei sehr speziellen Sportsfreunden: ein Stürmer, dem seit Jahren der Ruf eines schnöseligen enfant terrible anhängt.

Und ein Trainer, der als kauzig und stur gilt und die seltene Gabe zu haben scheint, es sich mit den meisten Topspielern seines Kaders zu verscherzen. Der Vorfall fügt sich, unabhängig vom Wortlaut, in die Gemengelage bei den Franzosen, deren Südafrika-Reise die Züge eines Gespensterumzugs entwickelt. Das wurde endgültig offenbar am Sonntagnachmittag, als das Team die Teilnahme am öffentlichen Training in Knysna verweigerte. Der Verbandsoffizielle Jean-Louis Valentin erklärte daraufhin seinen Rücktritt.

Domenech verliest Erklärung

Zuvor war es zu einem heftigen Disput zwischen Kapitän Patrice Evra und Fitness-Coach Robert Duverne gekommen, den Cheftrainer Raymond Domenech schlichten musste. Duverne warf seine Stoppuhr zu Boden und ging verärgert davon. "Ganz ehrlich, ich verlasse Südafrika und fliege heim nach Paris", sagte Valentin nach dem Zwischenfall zu Journalisten im WM-Quartier in Knysna. Und fügte sichtlich erschüttert hinzu: "Ich bin empört und angewidert, ich gebe meinen Job hier auf. Was hier passiert, ist ein Skandal für den Verband, für die französische Mannschaft und für das gesamte Land. Die wollen nicht trainieren. Das ist inakzeptabel".

Domenech verlas danach vor der Presse eine Erklärung der Spieler, in der sich diese ausnahmslos gegen den Rauswurf Anelkas stellten und dem Verband FFF schwere Vorwürfe machten. "Alle Spieler der Mannschaft von Frankreich wollen ohne Ausnahme ihre Opposition gegen den vom Französischen Fußball-Verband beschlossenen Ausschluss von Nicolas Anelka bekanntgeben".

Selbst Staatspräsident Sarkozy äußerte auf einer Dienstreise in St. Petersburg, Anelkas Entgleisung sei "inakzeptabel". Die Affäre berührt auch Felder jenseits des Fußballs: In Frankreich gehen manche so weit, das Bild der Equipe analog zum Zustand der Gesellschaft zu sehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema