Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland - England:Berauscht vom eigenen Zauber

"Eine grandiose Leistung": Nach dem beeindruckenden 4:1 gegen England scheint für die deutsche Mannschaft alles möglich zu sein - und sie selbst tönt schon selbstbewusst in Richtung Argentinien.

Thomas Hummel, Bloemfontein

Es dauerte nicht lange, da trugen Helfer zwei Kästen Bier Richtung deutsche Kabine. Durch Einlassungen einiger Spieler ist verbürgt, dass die Mannschaft die Flaschen geleert hat, in der Stunde nach dem wahrlich berauschenden 4:1 gegen England. "Wir haben geduscht, was getrunken, uns angezogen. Die Musik war ein bisschen am Laufen, die Stimmung war gut", fasste Lukas Podolski bündig zusammen. Und vermutlich hat der eine oder andere auf die Herren Jorge Larrionda und Mauricio Espinosa angestoßen.

Larrionda und Espinosa aus Uruguay waren als Schieds- und Linienrichter in Bloemfontein eingeteilt und entsprechend dafür zuständig, dass das Achtelfinale dieser WM nach den Regeln des Fußballs verläuft. Doch nach 38 Minuten verursachten die beiden einen irrwitzigen Fehler, den sie noch in 50 Jahren im Fernsehen begutachten können.

Beim Stand von 2:1 für das DFB-Team fiel der Schuss des Engländers Frank Lampard von der Unterkante der Latte geschätzte zwei Meter hinter die Linie, ehe er wegen des Dralles wieder gegen die Latte prallte und Torwart Manuel Neuer in die Arme. Doch Larrionda und Espinosa hatten es nicht gesehen, und weil sie laut Regeln des Weltverbands Fifa nicht das tun dürfen, was Millionen Menschen auf der Welt in diesem Moment taten, nämlich die Wiederholung auf einem Bildschirm anschauen, ging das Spiel einfach weiter.

Capello bleibt stur

Deutsche Spieler sahen in dieser Szene eine späte Rache für ihre Ahnen, die 1966 im Wembley-Stadion gegen England ein Tor hinnehmen mussten, das keines war. "Jetzt steht's 1:1", feixte Miroslav Klose, Per Mertesacker sagte mit leicht mafiösem Unterton: "Man sieht sich immer zweimal im Leben." Andere hatten mehr Mitleid mit dem Gegner. "Wir sind heute froh, dass es keinen Videobeweis gibt", erklärte Kapitän Philipp Lahm. Bundestrainer Joachim Löw analysierte die Szene in der ihm eigenen Sprache: "Dieser Ball war schon auch hinter der Linie. Da hätte man können, äh, hätte man müssen Tor pfeifen."

Doch während die einen Deutschen feixten und die anderen analysierten, waren die meisten Engländer schon weiter. Ja, ja, da war dieses nicht gegebene Tor, das vielleicht eine Wendung gebracht hätte. Doch wie kommt es, dass außer in der kurzen Phase nach dem 1:2 durch Matt Upson (37.)

Deutschland so viel besser war? Mehrfach sah sich Trainer Fabio Capello mit dieser Frage konfrontiert und wollte sie doch nicht beantworten. Der Italiener blieb stur bei Lampards Schuss. "Das 2:2 wäre sehr wichtig gewesen", antwortete er während der Pressekonferenz etwa 17 Mal.

Weil die teils geschockt wirkenden englischen Berichterstatter beim eigenen Trainer nicht weiterkamen, versuchten sie draußen bei den Deutschen ihr Glück. Braucht die Premier League auch eine Winterpause, damit die Spieler fitter zu den Turnieren kommen? Sollten die Engländer wie die Deutschen ihr Team verjüngen? Wurde die englische Abwehr als Schwachpunkt ausgemacht? Der deutsche Kapitän Lahm sollte England erklären, warum es auch in Südafrika nicht zu den besten Fußballnationen gehört. Irgendwann musste er breit lachen und die Augenbrauen bedauernd nach oben ziehen, als wollte er sagen: "Hey, das müsst ihr doch selbst wissen, warum fragt ihr mich?"

Doch die Engländer konnten nicht anders, als nach diesem Spiel leicht bewundernd zu den Deutschen aufzublicken. Wobei sich einige bei Lahm dazu weit hinunterbeugen mussten, aber sie taten ihr Bestes. Dieses Deutschland hatte die Schwächen der Engländer auf dem Spielfeld gnadenlos aufgedeckt und 80 Minuten lang mit einer Mischung aus taktischer Klugheit, Schnelligkeit und Kunst am Ball die Partie dominiert. Die junge deutsche Mannschaft hatte sich auf wundersame Weise von den mäßig unterhaltsamen Auftritten gegen Serbien und Ghana erholt und spielte plötzlich wieder wie zu Beginn beim 4:0 gegen Australien. Damals hatte der englische Trainer Capello noch erklärt, Deutschland habe ja nur gegen Australien gespielt.

Rasselbande gegen Laternenpfosten

Jetzt zeigte die deutsche Rasselbande, dass sich keine Mannschaft gegen sie größere Lücken in der Defensive erlauben sollte. Teilweise flitzte der Ball mit einer Geschwindigkeit durch die freien Räume in der englischen Abwehr, dass die Premier-League-gestählten Haudegen wie eine Ansammlung Laternenpfähle herumstanden. Das erste Tor von Miroslav Klose (20.) fiel noch nach einem profanen Abstoß von Torwart Neuer, der bereits die Innenverteidigung von John Terry und Matthew Upson überforderte. Das 2:0 durch Lukas Podolski (32.) schloss eine der schönsten Kombinationen des gesamten Turniers ab. Es hätten bis dahin noch mehr deutsche Treffer fallen können. Die Kontertore von Thomas Müller nach der Pause (67./70.) beendeten fulminante Schnellangriffe, bei denen nach dem deutschen Ballgewinn kein Zuschauer sein Schuhband binden durfte, sonst hätte er das Tor verpasst.

Weil diesmal im Vergleich zum Ghana-Spiel auch die Defensive geordnet stand, beschied Joachim Löw seiner Mannschaft "eine grandiose Leistung". Podolski drückte die gleiche Meinung in seinen Worten aus: "Wenn du 4:1 gegen England ein WM-Spiel gewinnst, dann ist das was Historisches, was richtig Geiles."

Die Deutschen sind nun wieder dort angekommen, wo sie nach dem ersten Spiel waren. Sie glauben, mit diesem jungen Kader bei der WM in Südafrika viel erreichen zu können. Wieder war von Klassemannschaft die Rede, von einem Team, das alles kann - vom Verteidigen über das Kurzpassspiel bis hin zum herzerweichenden Angriffsfußball. Noch wussten sie nach dem Schlusspfiff nicht, dass am Samstag zum Viertelfinale in Kapstadt Argentinien warten würde. Die Ansammlung hartgesottener Burschen, gegen die Deutschland im März bei einem Testspiel in München nur einmal auf das Tor geschossen hatte.

Doch wer will nach einem 4:1 gegen England schon an ein Scheitern denken? "Es ist egal, wer unser Gegner wird. Wir werden Gas geben und eine Runde weiter kommen", tönte der 21-jährige Mesut Özil. "Jetzt ist alles möglich", kündigte der 20-jährige Müller an. Die beiden schienen noch irgendwie berauscht zu sein von ihrem Zauber in Bloemfontein.

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