Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland:Wembley heißt jetzt Bloemfontein

Die DFB-Elf gewinnt im Achtelfinale mit 4:1 gegen England und überzeugt dabei mit feinen Kombinationen und Traumkontern. Doch alles wäre ganz anders gewesen, wenn der Schiedsrichter in der 38. Minute das Tor zum 2:2 gegeben hätte.

Am Ende darf auch dieses Spiel eingereiht werden unter all die bedeutungsvollen, geschichtsträchtigen, und unvergesslichen Spiele, die es je zwischen englischen und deutschen Fußballern gegeben hat. Vor dem Spiel reichte schon die Paarung an sich, um den Klassiker-Reflex auszulösen. Danach muss man sagen: Es hat alles gehalten, dieses 4:1 (2:1) der deutschen Elf im Achtelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft.

Es ist ein Spiel mit Geschichte geworden, nicht nur für die Geschichte. Und diese Geschichte wird man sich in Deutschland so und in England anders erzählen, es wird ein ewiges "was wäre wenn" bleiben, für alle Zeiten. Was wäre gewesen, wenn der Schiedsrichter wie alle anderen Menschen auf dieser Welt hätte sehen dürfen, dass der Ball in der 38.Minute im Tor war? Dass England getroffen hatte, zum 2:2? Wie wäre dieses denkwürdige, dramatische, skandalöse, dieses phantastische Spiel, dann ausgegangen?

Dramatik, Lattenschüsse, Kontertore

Die Debatten darüber, welche Konsequenzen aus dem größten Schiedsrichter-Versagen dieser WM zu ziehen sind, begannen schon lange vor dem Abpfiff in Bloemfontein und sind eine eigene Geschichte. Die plumpe Wiederholung und perfide Umdeutung der Ereignisse von Wembley 1966 aber waren eine Verhöhnung dieser ansonsten so wunderbaren Partie, die wie eine Zusammenfassung die Historie aller Duelle dieser Teams wiedergab, das Wembley-Aus der Deutschen ebenso wie das legendäre 1:5 von München, von allem fand sich etwas in den 90 Minuten voller dramatischer Lattenschüsse und wunderbarer Kontertore. Nur: Das alles wird nichts sein wegen dieser Fehlentscheidung der Schiedsrichter.

Es war von Anfang an zu sehen, dass die Deutschen ihren nervlichen Tiefpunkt mit der Partie gegen Ghana schon durchlitten hatten. Das Ausscheiden gegen die Afrikaner hätte ein historisches Versagen bedeutet, ein Sieg bloß das Minimalziel gesichert, die K.o.-Runde, nicht mehr. Niederlagen gegen England gehören zwar auch zu den bitteren Erfahrungen einer Nationalmannschaft - Siege aber, egal auf welche Art errungen, werden als Aktiva jeder Spielerbilanz verbucht, für immer. Sie sind die süßesten, die es geben kann.

Also spielten die Deutschen wieder Fußball im Stil des Australien-4:0, leicht, beschwingt und technisch so fein, dass für das Team England das Schlimmste zu befürchten war. Es war gerade so, als hätte die Elf von Bundestrainer Löw den Spielspaß aus dem ersten Vorrundenspiel einfach in einer Tiefkühltruhe im Mannschaftsquartier eingefroren gehabt und nun, zum richtigen Moment, wieder aufgetaut.

Wie selbstverständlich spielten die deutschen Doppelpässe schon an der Mittellinie, Müller mit Özil etwa, was ihnen mit geringstem Aufwand größten Raumgewinn einbrachte. Eine solche Kombination, sogar um noch eine Variante erweitert, führte zum Beispiel zum 2:0. Khedira, Müller, Klose, Özil, Müller, Podolski - über diese Stationen lief der Ball in der 35. Minute, während sich aber all diese Spieler wie an Fäden gezogen aufs englische Tor zu bewegten. Lukas Podolski schließlich schloss eine der schönsten Kombinationen des gesamten WM-Turniers erfolgreich ab.

Die Führung zu diesem Zeitpunkt war eine Folge der vollkommenen spielerischen Überlegenheit der Deutschen. Özil hätte schon in der fünften Minute das 1:0 erzielen können, scheiterte aber am englischen Torwart James. Miroslav Klose war für das 3:0 gut, kam aber ebenfalls nicht an James vorbei. Nichts deutete daraufhin, dass England in absehbarer Zeit in diese Partie zurückkehren würde.

Es gab da eine Szene aus der 24. Minute, als Rooney, der auch nach seinem neunten Spiel bei einer WM immer noch auf sein erstes Tor wartet, aus 25 Metern etwa genauso hoch übers Tor schoss. Das sollte England an diesem Sonntag sein? So schien es in der ersten halben Stunde gegen diese sehr entschlossene deutsche Elf. Den Willen des Teams hatte Miroslav Klose dokumentiert, als er sich nach einem weiten Abschlag von Manuel Neuer erst von John Terry ab - und dann heldenhaft gegen Upson durchsetzte. Es war das 1:0, Kloses zwölftes WM-Tor in seinem 99. Länderspiel.

Ein Tor aus dem Nichts

Es gab, zehn Minuten vor der Pause, kaum Zweifel daran, dass Klose auch sein 100. Länderspiel in Südafrika absolvieren würde, das Viertelfinale, denn nur ein Tor aus dem Nichts hätte England wieder ins Spiel bringen können. Doch da war nichts bis dahin, kein Tempo, kein Mut, keine Emotion, keine Inspiration. So kam es dann auch, das Tor aus dem Nichts: Ecke, Fehler Neuer, Kopfball Upson, 1:2. Plötzlich veränderte sich alles in der schockierten deutschen Elf, alles in der wiederbelebten englischen, und so schossen sie kaum einen Fanfarenstoß später das 2:2 durch Lampard, ein feiner, fester Schuss an die Unterkante der Latte, von wo der Ball deutlich hinter die Linie prallte. Nur: Der Schiedsrichter und seine Assistenten erkannten das nicht... - sie ließen weiter spielen.

Es war jetzt ein anderes Spiel, als es geworden wäre, wenn die Teams mit einem Unentschieden in die Kabine gegangen wären. Niemand weiß, ob die Deutschen wieder so mutig begonnen hätten wie in der ersten Halbzeit und nicht so zögerlich, wie sie es nun taten. Niemand weiß, ob die Engländer nicht vorsichtiger angegriffen hätten und nicht so früh die Abwehr entblößt hätten. So aber überstanden die Deutschen 20 Minuten, in denen die Engländer sich diesen Ausgleich unbedingt holen wollten, den sie ja schon längst geschafft hatten. Doch näher als der Latte kamen sie dem deutschen Tor nicht mehr, wieder durch Lampard, es war die 52. Minute. Dass die Elf von Joachim Löw noch einmal zu ihrer spielerischen Linie zurückfand, die sie offensichtlich in jeder Situation im Kopf hat, ist ehrenvoll: Zwei Konter wie aus einem Fortgeschrittenenseminar für schnelle Gegenstöße entschieden das Spiel, zweimal traf Thomas Müller aus München, in der 67. und 70. Minute.

Müller aus München - auch das noch. In 90 Minuten hat sich auf einem einzigen Platz noch nie so viel Geschichte wiederholt wie in Bloemfontein, Südafrika, Sonntag, 27. Juni. Sorry, England - aber die Reise der Deutschen geht weiter.

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Quelle:
SZ vom 28.06.2010
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