Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland:Mit holländischen Genen

Bei der Nationalelf stehen nicht mehr die "deutschen Tugenden" im Mittelpunkt - gerade das macht sie sympathisch. Doch ein historisches WM-Aus gegen Ghana würde alles in Frage stellen.

Thomas Hummel

Wann hat je eine deutsche Mannschaft ihr Volk durch das reine Spiel derart begeistert? Die Lobpreiser überschlugen sich, selbst das Ausland blickte neidisch auf die Deutschen, die so gar nicht all den Klischees von Disziplin, Kraft und Effizienz entsprachen. Zehn Tage ist das nur her, nach dem 4:0 gegen Australien. Und morgen schon, am elften Tag danach, könnten die Deutschen den schlimmsten WM-Kater ihrer Fußballgeschichte spüren, und die Fußballwelt würde sich über diese nutzlos schönen Teutonen kaputtlachen. Wenn sie am Mittwochabend gegen Ghana nicht gewinnen und ausscheiden.

Zum ersten Mal müsste eine Mannschaft des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) nach der Vorrunde heimreisen. Ein historischer Vorgang, doch es scheint, als würde unter den 80 Millionen selbst dann niemanden das Gefühl der Schadenfreude überkommen. Kein Landsmann scheint dieser Mannschaft das Ausscheiden zu wünschen, und wer nun glaubt, das sei ja wohl selbstverständlich, der irrt.

Das aktuelle Beispiel der Franzosen taugt dabei nur bedingt als Vergleichsgröße. Diese Truppe bot das miserabelste Bild eines selbstverliebten Haufens, der es vermutlich je zu einer WM geschafft hat. Der DFB erlebte seine schlimmste Abordnung peinlicher Unsympathen Anfang der achtziger Jahre, als beispielsweise Torwart Schumacher den Franzosen Battiston auf dem Spielfeld erlegte und die spanische Zeitung El País ein Foto, das Paul Breitner und Uli Stielike zeigte, mit "zwei hässliche Deutsche" betitelte.

1978 wünschte sich die deutsche Öffentlichkeit ihre Mannschaft schon vor der Schmach von Córdoba gegen die Österreicher nach Hause, weil sie so uninspririert kickte und vielleicht auch, weil der DFB den nach Argentinien geflohenen Nazi Hans-Ulrich Rudel im Quartier in Ascochinga empfangen hatte. 1986 erreichte ein Team aus Fußball-Handwerkern das Finale, 1994 drückte der Effenberg-Skandal auf die Stimmung, 1998 heizte die Rückholung des 37-jährigen Lothar Matthäus die Konflikte an.

Heute geht ein schlauer Kapitän Philipp Lahm voran, der Jahre vor der WM in Südafrika die Townships besucht hat und daraufhin eine Stiftung gründete, um benachteiligte Kinder zu unterstützen. Vorne lassen die Draufgänger Özil und Müller die Welt staunen, und nicht einmal im Tor steht noch einer der berüchtigten Fußballverrückten, sondern mit Manuel Neuer ein junger Mann mit Manieren, der wie kein anderer bei dieser WM das neue Torwartspiel repräsentiert. Zu guter Letzt spiegelt die Elf mit ihrer Mischung aus Oberbayern, Kölnern und Immigrantenkindern die deutsche Gesellschaft wider. Allein wegen Mesut Özil identifizieren sich auch viele Türken und türkischstämmige Deutsche mit ihr.

Erlebt Deutschland dennoch seinen WM-Kater wird eine Diskussion losbrechen, ob dieser sympathische Weg der richtige ist. Lahm, Schweinsteiger, Özil und Müller werden als historische Schönspieler deutscher Fußballgeschichte gescholten oder gar als erste DFB-Spieler mit holländischen Genen. Sollte Bundestrainer Joachim Löw danach wie erwartet zurücktreten, müsste der DFB darüber diskutieren, ob der Nachfolger nicht einer sein soll, der wieder die "deutschen Tugenden" in den Mittelpunkt stellt.

Am besten wäre es da, wenn Neuer, Lahm, Schweinsteiger, Özil und Müller heute Abend gegen Ghana einfach das Spiel gewinnen.

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