Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Deutschland:Mittel des kleinen Mannes

Die DFB-Elf zieht ohne ein Tor nach Standardsituationen ins Achtelfinale. Freistöße und Eckbälle scheinen für Joachim Löw einen strengen Geruch zu haben - er will gegen England auf anderem Wege siegen.

Christof Kneer

Joachim Löw hat das Spiel der Japaner im Fernsehen verfolgt, und er war am nächsten Tag immer noch beeindruckt "vom Tempo und von ihrer Laufstärke". Beides war in der Tat außergewöhnlich, aber es besteht Hoffnung, dass Löws Deutsche in dieser Disziplin konkurrenzfähig sind. Mindestens ebenso Aufsehen erregend waren aber die ersten beiden Tore der Japaner, und wer in dieser Disziplin auf Deutschland hofft, der glaubt wahrscheinlich auch noch an das Fritz-Walter-Wetter. Die ersten beiden Tore waren Freistöße.

Es ist ein Thema, das den DFB bei jedem Turnier wieder einholt. In einem Turnier lässt sich Deutschland komprimiert betrachten, da spielt Deutschland jeden vierten oder sechsten Tag, und die Häufigkeit des Auftritts ermöglicht den Blick auf Details. Wenn Deutschland nur einmal in einem Vierteljahr zum Länderspiel antritt, dann versendet sich der Eckball von Bastian Schweinsteiger, der sich hinterm Tor verfliegt. Und auf wenig Interesse stößt dann auch der Freistoß von Mesut Özil, der spätestens in der Mauer aufhört, ein Freistoß zu sein. Er ist dann nur noch ein toter Ball.

"Zwei-, dreimal geübt"

Am 6. September 2008 hat Thomas Hitzlsperger ein Freistoßtor geschossen, in einem WM-Qualifikationsspiel immerhin. Es war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, das 5:0 in Liechtenstein. Seitdem wartet Löws Elf auf Standardtore aller Art, auf Tore nach direkten Freistößen, nach Freistoßflanken, nach Eckbällen.

Löw hört die Frage nach Standardsituationen nicht so gern, er muss dann immer dasselbe sagen. "Wir haben das hier zwei-, dreimal geübt", sagte Löw vor dem Spiel gegen England. Ihm ist dieses Thema immer etwas unangenehm, man kann das schon verstehen. Er fühlt sich dann wie ein Schüler, der mal wieder genau jene Grammatiklektion abgefragt wird, die er nur überflogen hat.

Zurzeit ist Löw aber in absoluter Turnierform, er ist durch nichts zu kränken. Er schafft es, auch dieser Frage eine tröstliche Pointe abzugewinnen: "Bei der EM waren unsere Standards in der Vorrunde auch nicht gerade durchschlagskräftig, und im Viertelfinale haben wir dann gegen Portugal zwei Tore aus Freistößen erzielt", sagt er. Damals lenkte erst Klose einen Schweinsteiger-Freistoß per Kopf ins Tor, später Ballack - allerdings unter Zuhilfenahme eines reichlich zerstreuten portugiesischen Torwarts.

Löw weiß, dass sein Team gegen knorrige Engländer ein paar Standardsituationen gut gebrauchen könnte. In aufgeheizten Duellen entscheiden oft Banalitäten, auf diesem Niveau kann eine einzige Freistoßflanke den Unterschied zwischen Viertelfinale und Heimreise markieren - siehe Japan, das dank zweier Freistöße den Spielstand mal eben von 0:0 auf 2:0 stellte.

Löw weiß das, aber sein Ansatz ist ein anderer. Er hat den schwereren Weg gewählt, er bevorzugt gewaltlose Siege. Er will auch gegen England spielerisch siegen. Es ist in der Tat Löws Verdienst, dass er der obersten Mannschaft im Tugendland inzwischen ein Gespür für Strategie und Taktik vermittelt hat, dass er ihr spielerische Wege weist. In dieser Hinsicht hat er aber leider so viel Übungsbedarf ermittelt, dass am Ende eines Trainings kaum Zeit mehr für die kleine Form bleibt.

Man habe Standardsituationen schon trainiert, sagt etwa Jerome Boateng, "aber nicht allzu lange". Und Thomas Müller sagt, man könne eben nicht ständig Standards üben, "sonst bleibt Wichtigeres auf der Strecke". Zwar strahle die Nationalelf "da wirklich nicht sehr viel Gefährlichkeit aus, aber um die Abläufe gerade bei seitlichen Freistößen zu automatisieren, bräuchte man viel Zeit". Zeit, die Löws Stab nicht hat - oder: sich nicht nimmt.

"Meine Hoffnung ist jedenfalls groß"

Löw nimmt es bewusst in Kauf, dass ein deutsches Markenzeichen verblasst. Bislang war noch jede deutsche Nationalelf, die ein Finale erreichte, auf Standardtore angewiesen - bis auf die begnadeten Stilisten der Europameister-Elf von 1972, in deren Tradition Löw sein junges Team am liebsten sehen würde. "Stell die Linse scharf auf den Hrubesch, gleich knallt's", rief Karl-Heinz Rummenigge, stellvertretend für alle deutschen Fußballer-Generationen, im EM-Finale 1980 einem Fotografen zu. Wenige Sekunden später, kaum war die Linse scharf, rammte Hrubesch die Ecke zum 2:1 ins Tor.

Löw hat duchaus gute Gründe, den Standards seiner Elf zu misstrauen. Nach Ballacks Ausfall verbleibt ihm mit Klose nur noch ein bekennender Kopfballspieler in der ersten Elf, und seine besten Freistoßschützen (Trochowski, Kroos) sehen meist von draußen zu, wie drinnen die Freistöße in gegnerischen Mauern verenden. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass die Standardsituation für Löws Trainerstab etwas streng riecht. Sie gilt ihm als altmodisch, als Mittel des kleinen Mannes. Aber wer weiß, vielleicht wird's ja doch wieder wie vor zwei Jahren gegen Portugal, "meine Hoffnung", sagt Löw und lächelt, "ist jedenfalls groß".

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SZ vom 26.06.2010/mikö
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