WM 2010: Ballack fällt aus:Diagnose: Achsenbruch

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Nach Ballacks Ausfall muss die Generation Schweinsteiger/Lahm früher als erwartet ihre Reife beweisen. Im defensiven Mittelfeld setzt Löw auf einen Mann, der etwas Ballackhaftes an sich hat.

Christiof Kneer

Das Gute am deutschen Fußball ist ja, dass im Ernstfall alle zusammenhalten. Selbst verstoßene Familienmitglieder melden sich in dunklen Stunden und bieten ihren Rat an, gut gemeint und unentgeltlich. Also, er würde jetzt voll auf Bastian Schweinsteiger setzen, empfahl der Nationaltrainer Aserbaidschans, kaum dass die Meldung von Michael Ballacks WM-Ausfall auf dem Markt war. Der Nationaltrainer Aserbaidschans war dann sogar so freundlich, seinen kleinen Wink analytisch zu unterfüttern: "In einer Superform" sei dieser Schweinsteiger, sagte Berti Vogts.

Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger tragen nun früher als erwartet die Verantwortung. (Foto: Foto: dpa)

Da wird Joachim Löw aber ganz schön dankbar sein. Zwar ist ihm womöglich bereits selbst aufgefallen, dass Bastian Schweinsteiger derzeit ganz gut Fußball spielt, aber nun hat er auch noch den Segen der Familie. Weitere Namen sind der Familie dann nicht mehr eingefallen, außer jenem, den der ehemalige Nationalspieler Olaf Thon in die Debatte mischte.

"Für mich kommt nur Torsten Frings als Ersatz in Frage", sagte Thon. Dass Löw den Bremer ins WM-Camp nach Sizilien bestellt, ist aber ungefähr so wahrscheinlich wie die Aussicht, dass Kevin-Prince Boateng, der Ballack im englischen Cupfinale brachial umgetreten hatte, demnächst zum DFB-Ehrenspielführer ernannt wird. "So ist es", antwortete Löw knapp, als er in Sizilien gefragt wurde, ob Frings weiterhin kein Thema sei.

"Riss des Innenbandes und Teilriss des vorderen Syndesmosebandes des rechten oberen Sprunggelenks" - so lautet im Fachterminus jene Nachricht, die Löw und seinen Stab am Montag aufwühlte. Dies ist die Sprache der Ärzte, in der Sprache des Sportlehrers lautet die wahre Diagnose: Achsenbruch.

Die wahre Dramatik von Ballacks Ausfall erfasst erst, wer die Personalie nicht isoliert betrachtet, sondern sie in den sportlich-strategischen Zusammenhang setzt. Hier wurde nicht einfach nur der prominenteste Spieler vom Sport befreit. Hier fehlt eine der wenigen auf Höchstniveau verlässlichen Figuren - eine, die das ganze Gebilde tragen sollte.

Joachim Löw wird bei der WM ohnehin ein kurioses Team dabeihaben, und ohne Ballack ist nun vollends ein Kader entstanden, für den jedes historische Vorbild fehlt. Deutsche WM-Mannschaften waren meist stabile Zwanzigtonner, aber sie hatten einen Wendekreis, der so groß war wie ein WM-Stadion. Nun hat Löw im Mittelfeld rasende Minis wie Özil, Marin, Müller, Kroos oder Trochowski, die in einer Telefonzelle wenden können; ob sie aber ein Spiel strukturieren und beruhigen, ob sie ihm im Zweifel ihren Körper entgegenstellen können, das weiß Löw ebenso wenig wie Olaf Thon oder der Nationaltrainer von Aserbaidschan.

Was Löw immerhin von den beiden Letztgenannten unterscheidet, ist, dass er über einen Lieblingsspieler verfügt, den er nun vor der Zeit ins WM-Stadion schicken wird. Sami Khedira, 23, ist für Telefonzellen gänzlich ungeeignet, er ist ein schlaksiger Mittelfeldspieler, "der jetzt neben Schweinsteiger besonders gefragt sein wird", wie Löw am Montag sogleich verfügte.

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Khedira hat in der Tat etwas Ballackhaftes in seinem Spiel, auch er ist kopfballstark und mit der Gabe des letzten und auch vorletzten Passes ausgestattet, und so wird Löw versuchen, wie mit Ballack zu spielen, nur ohne Ballack. Statt Ballack/Schweinsteiger sollen nun Schweinsteiger/Khedira das Zentrum verantworten - eine Lösung, die einleuchtend, aber auch riskant ist.

Ballacks Blessur trifft Löws Elf an ihrer sensibelsten Stelle. Das defensive Mittelfeld ist die Kommandozentrale des modernen Fußballs, und wenn man es genau nimmt, postiert Löw nun zwei Anfänger an den Schalthebeln. Schweinsteiger ist ein gereifter Premium-Nationalspieler, aber diese Position spielt er erst seit einem halben Jahr. Khedira spielt diese Position schon immer, aber auf diesem Niveau ist er ein kompletter Neuling.

Die defensive Stabilität könnte nun, womöglich mehr als die kriselnden Stürmer, das große Thema werden bei dieser WM. Selbst Ballack und Schweinsteiger waren ja ein gewagtes Paar, weil keiner von beiden einen klassischen Sechser darstellt. Beide sind Achter, denen der Weg nach vorne vertrauter ist als der nach hinten. Dennoch galt das Duo - da der breitschultrige Ballack, dort der auf der Van-Gaal-Wolke schwebende Schweinsteiger - als zentraler Faktor in einem an Baustellen reichen Team.

Dass Löw mit Khedira/Schweinsteiger nun wieder zwei Achter kombiniert, liegt an diesem kuriosen Kader, in dem viel Talent, aber nach der verletzungsbedingten Absage des Leverkuseners Rolfes kein echter Sechser steckt - außer Christian Träsch vielleicht, einem dienstbaren Geist, dessen Spiel für die große Bühne womöglich noch etwas zu holprig ist. Als Khediras Stellvertreter dürfte er seinen Platz im Kader nun aber sicher haben.

Er werde "keinen Spieler nachnominieren", sagte Löw, aber eine winzige Hintertür hat er sich offengehalten. "Vielleicht denke ich nach dem Champions-League-Finale noch mal nach." Es bleibt eine winzige Hoffnung für Löws Musterschüler Thomas Hitzlsperger, dem der Bundestrainer wegen fortgesetzten Reservistentums bei Lazio Rom beim besten Willen keinen Kaderplatz zuweisen konnte.

Für den Ausgang der WM-Kampagne dürfte nun entscheidend sein, wie die junge Elf reagiert. Die Generation Lahm hat den gelegentlich grummelnden Anführer ja durchaus mit Skepsis betrachtet, sie hat andere Ansichten von Hierarchie und Befehlsstruktur. Nun wird die Generation Lahm zeigen müssen, dass sie sich und ihr Spiel selbständig organisieren kann, dass ihr demokratischer Ansatz und ihre heitere Ansprache auch in der Hitze eines Turniers funktioniert.

Wer neuer Kapitän werde, wurde Löw am Montag noch gefragt. Er hat keine Antwort gegeben, aber erwartet wird, dass Philipp Lahm das Ehrenzeichen führen darf. "Ich würde nicht nein sagen", sagt Lahm. Was für Lahm spricht: Auch Louis van Gaal hat diese Lösung am Montag befürwortet. Und nicht nur Joachim Löw, Olaf Thon und der Nationaltrainer Aserbaidschans wissen, dass van Gaal immer recht hat.

© SZ vom 18.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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