Süddeutsche Zeitung

WM 2010: Aus für den Gastgeber:Noch ein letzter großer Rausch

Südafrika ist als erster Gastgeber in einer WM-Vorrunde ausgeschieden. Immerhin ist das Land nach dem Sieg gegen Frankreich mit seiner Mannschaft versöhnt. Doch was wird nun aus der WM-Stimmung?

Thomas Hummel, Johannesburg

Wenigstens eine Viertelstunde lang, eine wertvolle Viertelstunde lang fühlte Melville eine WM-Partystimmung. Die Menschen gingen raus auf die 7th Street, sie bliesen in die Vuvuzelas, tanzten vor Freuden, schwenkten die Fahne ihrer Regenbogennation, Autos fuhren hupend durch ein Spalier. Viele holten ihre Digitalkameras heraus und drehten Videos, denn wann hat es das in diesem Stadtteil von Johannesburg schon gegeben, dass die Leute ausgelassen feierten und sich über diese WM freuten?

Südafrika führte zu diesem Zeitpunkt im fernen Bloemfontein mit 2:0 gegen lahme Franzosen, Uruguay lag gleichzeitig gegen Mexiko 1:0 vorne. Den Jungs, den Bafana bafana, fehlten plötzlich nur noch zwei Tore, um das ganz und gar Unwahrscheinliche doch noch zu erreichen: den Einzug ins Achtelfinale ihrer Fußball-Weltmeisterschaft. Dass dieser Glaube überhaupt noch einmal aufkommen würde, hatte in Südafrika niemand ernsthaft für möglich gehalten. Doch nun war der Glaube da, und die Südafrikaner nutzten den Moment, um sich an ihrer Mannschaft und ein bisschen auch an sich selbst zu berauschen.

Noch eine knappe Stunde zuvor war von Vorfreude oder gar Partystimmung nichts zu spüren gewesen. Seit dem 0:3 gegen Uruguay am vergangenen Mittwoch hatten die Südafrikaner über die Bafana bafana geschimpft. Sie taugten nichts, hätten auf diesem Niveau nichts verloren, man müsse sich fast schämen. 4:0 mussten sie gegen Frankreich gewinnen, den früheren Weltmeister - das erschien so wahrscheinlich wie eine Welt ohne Kriminalität.

Angriffe gegen Parreira

Am Tag des letzten Gruppenspiels griff der bekannte Fußball-Kolumnist Matshelane Mamabolo Trainer Carlos Alberto Parreira in der Zeitung The Citizen scharf an, bezeichnete ihn als überschätzt und überbezahlt. Die mächtige Jugendorganisation des regierenden ANC wollte Einfluss auf die Aufstellung nehmen und forderte einen Verzicht auf Kapitän Aaron Mokoena, weil dieser "manchmal kostspielige Fehler macht, die sich das Team und das Land in diesem Alles-oder-nichts-Spiel nicht leisten kann". Plötzlich wollte es jeder besser wissen.

Die Stimmung rund um die Bafana bafana war derart mies, dass sogar Staatspräsident Jacob Zuma und sein Vorvorgänger Nelson Mandela ihre Landsleute dazu aufrufen mussten, im vermutlich letzten WM-Spiel gegen Frankreich hinter den eigenen Fußballern zu stehen. Diese Aufrufe schafften es auf die Titelseite renommierter Zeitungen. Es verstärkte sich der Eindruck von Verzweiflung.

In Melvilles 7th Street, die in Johannesburg bekannt ist für ihre lebendigen Bars und Restaurants, blieben am Dienstag zum Anpfiff um 16 Uhr dennoch Plätze frei. Wenn nicht gerade Südafrika spielt, ist hier am Nachmittag fast gar nichts los. Melville ist das Zentrum der Johannesburger Bohème, Künstler, Lebenskünstler und Homosexuelle haben hier ihren Treffpunkt. An der Tür eines Bücherladens hängt ein Zettel, dass die Inhaberin Unterricht in Philosophie anbietet. Und in der Bar "Six", wo sich die meisten Fußballfans in Melville versammeln, hängen zwischen den Flachbildschirmen Gemälde von Lenin, Mao, Jesus, Ché Guevara und, immerhin, Diego Maradona.

Diejenigen, die pünktlich kamen, setzten den Auftrag ihrer Regierung um und warfen sich in Fankluft. Gelbe Trikots überall, dazu die Kopfbedeckungen: Makarapa-Helme mit ihren individuellen Verzierungen, Faschingsmützen, Regenbogen-Perücken und gelbe Wollmützen. Sie sangen ihre vielsprachige Hymne mit der Anfangszeile "Nkosi sikelel' iAfrika" - Herr, segne Afrika. Dabei zweifelten die meisten merklich, dass der Herr ihre Fußballer mit einem Sieg segnen würde und widmeten sich ihren Tischgesprächen. Kaum einer interessierte sich für das Treiben auf den Bildschirmen. Bis zur 20. Minute.

Da schossen Bafana bafana das 1:0 - und im "Six", vermutlich in ganz Südafrika, änderte sich alles. Die Leute genossen den Torjubel als Gemeinschaftserlebnis, und plötzlich gab es nichts Wichtigeres mehr auf der Welt als das Treiben auf den Bildschirmen. Es folgte die rote Karte für Frankreich, das 2:0 für Südafrika. Während Europäer bei einem Torjubel gerade nach oben springen, hüpfen Südafrikaner kreuz und quer herum wie ein Haufen Flöhe.

Wie sie es schafften, dass während dieses Tohuwabohu im "Six" kein einziges Glas von einem Tisch fiel, wird für immer ihr Geheimnis bleiben. Als Sekunden später die Bafana bafana das dritte Tor erzielten, erreichte die Lärmpegel vuvuzelische Ausmaße. Der Schiedsrichterassistent winkte zwar abseits, doch die Atmosphäre hatte sich vollständig gedreht.

"Out but proud"

Auf wundersame Weise füllte sich nun auch das "Six", bis sich die Menschen Schulter an Schulter in alle Ecken drängten. Die Halbzeit geriet zum ersten spontanen Fest auf der 7th Street. Doch es folgte auch die zweite Halbzeit mit den spitzen Schreien, den Aahhs und Iihhs. Frankreich schoss ein Tor, einige Franzosen in den Bars entschuldigten sich bei den Einheimischen dafür.

Bald wurde es zur Gewissheit, dass Südafrikas Team die eigene WM nach diesem Spiel verlassen wird. Dennoch gab es noch beim Freistoß nach 93 Minuten Anfeuerungsrufe: Come on! Dann pfiff der Schiedsrichter ab, das 2:1 war zu wenig, Bafana bafana sind ausgeschieden - und die Menschen im "Six", in ganz Melville, im ganzen Land klatschten Beifall für ihr Team. Es war nun wieder ihr Team.

Wie befürchtet verpasst Südafrika als erster Gastgeber einer WM die zweite Runde des Turniers. Doch das Land ist zumindest kurz nach Spielende versöhnt mit den Bafana bafana. "Out but proud" - Stolz trotz Aus, titelte die Zeitung The Citizen, The Sowetan meinte: "So kann man gehen." Dabei stellen sich nun viele die Frage: Werden die Südafrikaner auch den Rest der WM freudig begleiten? "Ich appelliere an die Südafrikaner: Sie müssen weiterhin die WM unterstützen", forderte sogleich Mwelo Nonkonyana, Chef des nationalen Fußballverbands. Sollte es Nelson Mandela mit einem solchen Aufruf auf die Titelseiten der Zeitungen schaffen, muss man sich um die WM-Stimmung ernstlich Sorgen machen.

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