WM 2010: Argentinien:Was soll da schon schiefgehen?

"Es gibt Dinge, die fühlt man": Argentinien erinnert sich an den WM-Triumph von 1986 und sieht dem Duell mit Alemania mit größter Gelassenheit entgegen.

Peter Burghardt

Am Obelisken von Buenos Aires stand gerade ein aufgepumptes Trikot Argentiniens mit der Nummer 10. Himmelblauweiß und kurzärmelig, trotz des manchmal schon recht frischen Winters, aber einige Meter hoch und mit breiter Brust. Aufgeblasene Argentinier, könnten Kritiker spotten, und obendrein kopflos, doch das verkennt bedeutende Symbolismen.

burruchaga 1986

Das 3:2 im WM-Finale 1986: Der Argentinier Jorge Burruchaga (li., Argentinien) schiebt den Ball ins deutsche Tor, Hans-Peter Briegel ist fassungslos, Torwart Harald Schumacher am Boden.

(Foto: Imago)

Erstens ist dieses Zentrum der Hauptstadt an der Avenida 9 de Julio, der angeblich breitesten Straße des Planeten, traditionell der Mittelpunkt nationaler Feierlichkeiten. Hier wurde kürzlich der 200. Jahrestag der Unabhängigkeitsbewegung begangen und am Sonntag der 3:1-Erfolg im Achtelfinale gegen Mexiko. Hier werden Wahlsiege bejubelt und WM-Titel, der letzte liegt aber bald ein Vierteljahrhundert zurück. Zweitens ist die 10 die Zahl der Helden. Mario Kempes trug sie 1978, Diego Maradona 1986, in Südafrika trägt sie jetzt Lionel Messi über das Feld.

Zweifel an Maradonas Eignung

Er war vor 24 Jahren noch gar nicht auf der Welt. Messi wurde in der italienischen Klinik von Rosario 1987 geboren, 3600 Gramm schwer, Maradona liebte das Volk da bereits als himmlischen Dribbelkünstler und göttlichen Betrüger. Carlos Tévez ist Jahrgang 1984, "ich war zwei". Die meisten aus Maradonas Equipe kennen die Heldentaten ihres Trainers nur aus Videos und Erzählungen, Torjäger Gonzàlo Higuaín verließ den Mutterleib 1987 in Brest, Frankreich, wo sein Vater stürmte.

Bewusste Augenzeugen waren wohl bloß Angreifer Martín Palermo, 36, und ansatzweise Verteidiger Gabriel Heinze, seinerzeit acht. Heinze weiß noch, dass sein Vater vor dem 3:2 im Endspiel gegen die Deutschen daheim in Crespo die Familie versammelte und berichtete, dies sei der schönste Tag, weil man gleich Weltmeister werde. Woher er das wisse, fragte der Sohn. "Es gibt Dinge, die haben keine Antwort, die fühlt man."

Seitdem wartet das Land darauf, dass sich dieser Moment wiederhole. Das Gefühl ist für viele der 40 Millionen Bewohner im achtgrößten Staat der Erde so überzeugend wie damals - trotz oder wegen Maradona, je nach Geschmack. Etliche Argentinier hatten Zweifel an der pädagogischen Eignung des eigenwilligen Genius, dessen Alleingänge auf und neben dem Platz die Republik seit Jahrzehnten unterhalten. Während der mühsamen WM-Qualifikation gedieh die Ansicht, dass das mit dem Heißsporn und Strategienovizen nichts werden könne.

Geldschein mit Maradonas Kopf

Inzwischen jedoch tun sich selbst Miesmacher schwer, die bisherige Maradonashow am Kap nicht beeindruckend, lustig oder beides zu finden. Und wenn Messi und seine Eskorte wie gegen Mexiko sogar schlecht spielen und trotzdem lässig gewinnen - was soll dann schiefgehen, wenn sie gegen Deutschland womöglich sogar gut spielen oder zumindest so konzentriert wie kürzlich beim 1:0 in München?

Andreas Brehme (BR Deutschland)

Das 1:0 im WM-Finale 1990: Andi Brehme verwandelt einen Elfmeter zum Siegtreffer.

(Foto: imago)

Konservative fürchten weitere Triumphe dieser Albiceleste zwar auch. Maradona gilt als Anhänger der linksperonistischen Regierung von Cristina Fernàndez de Kirchner und ihrem Vorgänger/Gatten Néstor Kirchner, denen Gegner keinen Anlass zum Fest geben wollen. Es wird gezankt, um Inflation, Meinungsfreiheit und vermeintliche Geheimgeschäfte mit Venezuelas Präsidenten Hugo Chàvez, mit dem Maradona mal gegen Bush demonstriert hat.

Aber kein Vergleich mit der Diktatoren-WM 1978, als in Hörweite des Stadion Monumental, wo das Finale stattfand, Regimegegner gequält und ermordet wurden - der Folterkeller ESMA ist heute Gedenkstätte, die Mörder stehen vor Gericht. Und 1986 standen nach der Rückkehr zur Demokratie Generalstreiks und Hyperinflation ins Haus, und das 2:0 gegen die Engländer war die Rache für den verlorenen Krieg um die Falklands alias Malvinas.

Die Cartoonisten des Blattes Clarín regen in ihren täglichen Comics an, einen 1000-Peso-Schein mit Maradonas Kopf darauf einzuführen, falls man den Pokal erobere. "Ihr könnt mir alle mal einen...", soll als Motto darunter stehen. Bislang sind 100 Pesos das Größte, gut 20Euro, ihr Motiv würdigt den Massenmord an Indios. Die Wirtschaftskrise ist chronisch, doch es ging bergauf, und nach dem Staatsbankrott 2001/2002 war alles viel schlimmer.

"Der Strom war ausgefallen"

Das nächste Duell mit Alemania wird trotz des Politstreits einigermaßen entspannt erwartet. 63,3 Prozent der Fernsehzuschauer sahen, wie Maradonas Leute die Mexikaner hinauswarfen. Und die Rechercheure der Zeitung La Nación stellten erfreut fest, dass diesmal auffällig viele Spieler auf die Frage antworteten, wie sie Maradonas Geniestreichen 1986 erlebten.

1998 in Frankreich reagierte die damalige Passarella-Truppe gereizt auf die ewigen Vergleiche mit einst. "Es reicht", brummte Claudio López, und Ariel Ortega informierte: "Ich erinnere mich nicht, der Strom war ausgefallen." Ansonsten wartet Argentinien auf die finale Party am Obelisken: Maradona will ihn nackt umrunden, wenn alles klappt.

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