Wladimir Klitschko:Der Boxer, der seinem Kopf vertraute

Boxen

"Es war die beste Berufswahl, die ich treffen konnte": Am Donnerstag beendete Wladimir Klitschko seine Karriere.

(Foto: Frank Peters/Witters)
  • Wladimir Klitschko beendet seine Karriere und wird in die Geschichte seines Sports eingehen als einer der bedeutendsten Schwergewichtskämpfer.
  • Ein Rückkampf gegen seinen letzten Gegner Anthony Joshua hätte ihm wohl Einnahmen im achtstelligen Bereich gebracht.
  • Seine Karriere endet deswegen mit einem Was-wäre-wenn-Moment.

Von Benedikt Warmbrunn

Die Wahrheit über einen Boxer liegt immer in seinen Augen. Schmerzen, Ängste, Träume, all das, was der restliche Körper mit Muskeln verbirgt, wird in den Augen sichtbar. An diesem Aprilabend 2017 lag in den Augen von Wladimir Wladimirowitsch Klitschko Gelassenheit, seine Augen sagten: Ich habe alle Zeit der Welt. Er, 41 Jahre alt, hatte kurz zuvor in der sechsten Runde den 14 Jahre jüngeren Anthony Joshua zu Boden geschlagen, sein Gegner hielt sich kaum noch auf den Beinen. In Joshuas Augen sah Klitschko erste Müdigkeit, und sein über fast drei Jahrzehnte geschulter Boxerblick riet ihm, es nicht zu überstürzen. Doch dieses eine Mal irrten sich seine Augen.

Am Donnerstag hat Klitschko seine Karriere beendet, er wird in die Geschichte seines Sports eingehen als einer der bedeutendsten Schwergewichtskämpfer, als der Mann der ersten eineinhalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. 4 383 Tage lang war er insgesamt Weltmeister, verteilt über zwei Regentschaften. Beim zweiten Mal waren es neun Jahre, sieben Monate und sieben Tage, ohne Unterbrechung. Nur Joe Louis hielt seinen Titel länger, von 1937 bis 1948. Aber was Klitschkos Karriere vielleicht am meisten kennzeichnet, sind nicht seine Siege, von denen viele längst in Vergessenheit geraten sind. Es ist sein Umgang mit Niederlagen. Gerade dann demonstrierte er, was ihn zu einem speziellen Schwergewichtsboxer macht: seine Fähigkeit, alles zu hinterfragen und daraus den vernünftigsten Entschluss zu ziehen. Seine Fähigkeit, nicht auf seine Fäuste zu vertrauen. Sondern auf seinen Kopf.

Am 29. April war Klitschko von Joshua in der fünften Runde zu Boden geschlagen worden, er erholte sich schnell, hatte bis zum Ende der Runde seinen Gegner an die Grenzen seiner Kräfte getrieben. Eine Runde später fiel Joshua um. Klitschko sah die Müdigkeit in den Augen seines Gegners, wäre der Kampf nun so weitergelaufen, wie er es erwartete, es wäre sein 65. Sieg geworden, gegen den besten Gegner der letzten Jahre seiner Karriere. Ein würdiger Moment, um aufzuhören.

Ein Rückkampf gegen Joshua hätte wohl Einnahmen im achtstelligen Bereich gebracht

An diesem Abend jedoch irrten sich eben Klitschkos Augen, Joshua erholte sich, Klitschko ging zweimal in der elften Runde zu Boden, der Ringrichter brach das Duell ab. Und so wurde es ein unvergesslicher Boxabend. Es war weiterhin ein würdiger Moment, um aufzuhören.

In den Monaten nach der fünften Niederlage seiner Karriere hat Klitschko erst lange Urlaub gemacht. Er hat den Kampf noch einmal bis in jedes Einzelteil auseinandergenommen, er hat sich selbst bis ins kleinste Detail analysiert, und er hat daran gedacht, was er immer wieder gesagt hat: dass er sofort aufhören wird, wenn er spürt, dass Motivation oder Gesundheit nachlassen. Und dass er nicht nur wegen des Geldes boxen will, dass er nicht so enden will wie viele Boxer, unter anderem Joe Louis, der am Ende nur noch kämpfte, um seine Steuerschuld zu begleichen.

Ein Rückkampf gegen Joshua hätte dem Ukrainer wohl Einnahmen im achtstelligen Bereich beschert. Doch darum ging es ihm nicht mehr. "Es gibt immer einen Punkt im Leben, an dem wir ein neues Kapitel beginnen und neue Herausforderungen annehmen müssen", teilte Wladimir Klitschko am Donnerstagvormittag in einer Videobotschaft mit, "es ist genau jetzt der Zeitpunkt, um diesen Wendepunkt anzunehmen."

Seine Laufbahn endet mit einem Was-wäre-wenn-Moment

Klitschko ist somit das gerade im Boxen seltene Kunststück gelungen, seine Karriere mit einer Niederlage zu beenden - und doch zum richtigen Zeitpunkt. Er wird in Erinnerung bleiben als einer, der gegen den Besten der nächsten Generation mithalten konnte, der diesen an den Rand einer Niederlage getrieben hatte, und nicht als alter Mann im Ring. Und er lässt seine Laufbahn mit einem Was-wäre-wenn-Moment enden, mit der Spekulation darüber, wie ein möglicher Rückkampf wohl ausgegangen wäre.

Dass er auf diese Option verzichten würde, sagt sein Manager Bernd Bönte, habe Klitschko in den vergangenen Wochen immer mehr für sich herausgearbeitet, endgültig entschieden hat er es am Mittwoch. "Es ist nicht so, dass er nicht glauben würde, dass er in einem Rückkampf keine Chance haben würde", sagt Bönte, "aber er wollte sich auch nicht noch einmal zehn Wochen lang ein sehr hartes Trainingslager aufzwingen."

Es war nicht das erste Mal, dass Klitschko Fragen nach einem Rücktritt begleiteten. So war das nach seinem vorletzten Kampf, als er 2015 gegen Tyson Fury verlor. Und so war das bereits im April 2004, als Klitschko gegen Lamon Brewster verlor, zum zweiten Mal in 13 Monaten. Damals hatte ihm sogar sein älterer Bruder Vitali, selbst Schwergewichtsweltmeister, zum Ende geraten. Doch gerade in diesen Wochen fand Wladimir Klitschko als Boxer zu sich. Gemeinsam mit Emanuel Steward, der ihn seit dem Frühjahr 2004 trainiert hatte, entwickelte er sich zu einem Strategen, der kompromisslos auf seine eigenen Stärken setzte. Und der gnadenlos die Schwächen der Gegner ausnutzte. Das war zwar oft ein bisschen langweilig. Aber es war immer wahnsinnig effektiv.

Klitschko verkörpert Eigenschaften, die nicht unbedingt mit einem Boxer in Verbindung gebracht werden

Mit dem 2012 verstorbenen Steward feilte Klitschko akribisch an jedem Detail. Sie passten den Hocker für die Rundenpausen an seine Sitzform an. Sie wechselten von schwarzen zu weißen Schuhen, weil diese ein Gefühl von Leichtfüßigkeit vermitteln. Und sie transformierten den Boxer Wladimir Klitschko von einem, der auf die Schlagkraft seiner beiden Fäuste vertraute, zu einem, der einen Kampf wie ein Stratege angeht. Klitschko wurde agiler in den Beinen, verlagerte das Gewicht mehr auf das hintere Bein, stand so aufrechter. Mit der linken Hand hielt er sich die Gegner fern, und Schlag für Schlag zermürbte er sie. Weil sie nie an Klitschko herankamen, sondern immer nur gegen seine linke Faust prallten. "Wladimir hat das Feine im Schwergewicht stilisiert", sagt Bönte.

Klitschko verkörperte im Ring nun endgültig all das, was er außerhalb schon immer repräsentiert hatte. Ein intelligenter, höflicher, gut erzogener, hilfsbereiter Mann - alles Eigenschaften, die nicht unbedingt mit einem Profiboxer in Verbindung gebracht werden. Die beiden Klitschko-Brüder wurden nicht durch Provokationen bekannt, sondern dadurch, dass sie in einer Branche der Groben als Gentlemen auftraten. Sie engagierten sich für Wohltätigkeitsorganisationen, sie führten bei "Wetten, dass..?" Zaubertricks auf, und sie verwandelten ihre Kampfveranstaltungen zu Galas. Der Sport, den früher die Rotlichtkönige regierten hatten, wurde interessant für die Schönen und die Reichen, und Millionen von Fans folgten diesem Glanz, gerade in Deutschland. Achtmal füllte Wladimir Klitschko bei seinen Kämpfen ein Fußballstadion, auf RTL sahen ihm regelmäßig mehr als zehn Millionen Zuschauer zu; 2011 gegen David Haye waren es in der Spitze mehr als 16 Millionen. "Es war die beste Berufswahl, die ich treffen konnte", sagt Klitschko. Auch, weil es ihm den Weg bereitete für die Karriere nach der Karriere.

In den vergangenen Jahren hat Klitschko nebenbei mehrere Projekte angeschoben. Seit 2003 haben die Klitschkos ihre eigene Boxpromotion-Firma, K2, seit 2007 vermarkten sie sich selbst. Vitali zog es nach dem Karriereende in die Politik, er ist nun Bürgermeister von Kiew. Wladimir dagegen interessierte sich schon immer mehr für die Wirtschaft. In Kiew betreibt er ein Hotel, an der Universität St. Gallen gibt er einen Kurs im "Challenge-Management", in Zukunft möchte er sich noch stärker in der Start-up-Branche engagieren. "Ich mache das mit dem größten Respekt", sagt Klitschko.

Überstürzen will er erst einmal nichts. Er hat jetzt ja alle Zeit der Welt.

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